Je älter ich werde, umso schwerer fällt es mir, Situationen und (gesellschaftliche) Regeln auszuhalten, die ich als ungerecht und diskriminierend empfinde. Besonders, wenn ich selbst betroffen bin oder Menschen, mit denen ich mich auf irgendeiner Persönlichkeitsebene identifiziere.
Immer wieder komme ich an den Punkt, an dem ich mich selbst Frage, Mund auf oder Mund zu?
Wenn es schon in Deutschland, in dem gesellschaftlichen Kontext, in dem ich Zuhause bin, schwierig für mich ist, diese Frage zu beantworten, dann könnt ihr euch vorstellen, dass es in Salone noch schwieriger ist. Lange habe ich mich immer für „Mund zu“ entschieden, wenn ich Ungerechtigkeiten wahrgenommen und empfunden habe. Rückblickend habe ich vieles auch oft ausgeblendet. Ich habe das Gefühl, ich hatte lange keine Kapazitäten, mich mit bestimmten Themen zu beschäftigen. Ich war wohl zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Aber seit ein paar Wochen hat sich das geändert. Lange hat sich mein Alltag anstrengend angefühlt. Das hat sich seit November geändert. Offensichtlich sind jetzt Energien frei, durch die ich nun vieles als störender empfinde, was die Monate zuvor auch da war, aber nicht mein Thema war.
Noch ein kleiner Hinweis: Der Text ist streckenweise etwas holprig. Ich habe ihn teilweise diktiert und dann überarbeitet. Das klappt nicht so gut, habe ich jetzt festgestellt. Mache ich also künftig nicht mehr. Oder ich muss noch sehr viel üben.
Im Alter werde ich zur Feministin
Ein Thema, das mich auch in Deutschland seit einigen Jahren mehr beschäftigt als in jüngeren Jahren, ist die Wahrnehmung und Stellung von Mädchen und Frauen in verschiedenen Gesellschaften und Zeiten. Im Alter werde ich immer feministischer. Das mag daran liegen, dass ich mit zunehmendem Alter immer klarer sehe, in wie vielen Bereichen und durch wie viele gesellschaftliche Erwartungen und ungeschriebene Regeln, Frauen benachteiligt und begrenzt werden. Ich brauche euch nicht zu erzählen, auf welchen Ebenen dies in Deutschland der Fall ist. Immer noch. Auch in meiner Generation. Aber wie soll ich mit Diskriminierung und Ungleichbehandlung in einem kulturellen und religiösem Kontext umgehen, der nicht der meine ist und den ich auch nicht vollständig kenne und verstehe?
Ich habe mich in den letzten Wochen immer wieder für „Mund auf“ entschieden. Oft sind es kleine Situationen, die mich ärgern und in denen ich innerlich mit mir kämpfe und nicht weiß, wie ich am besten reagiere. Kultursensibel, nicht abwertend, aber dennoch meine Position darstellend. Ich sehe mich ja ungern in der Rolle des postkolonialen europäischen Menschen, der Menschen in anderen Erdteilen erklärt, wie sie am besten zu leben haben. Aber immer öfter kann ich meinen Mund nicht halten und muss ansprechen, was ich sehe und wie es auf mich wirkt. Natürlich kommt es sehr stark darauf an, mit wem ich es zu tun habe. Mit Kollegen kann ich ganz anders kommunizieren als mit Menschen, die ich nicht kenne.
Genderpolicy und Quotendenken – aber nur solange das Essen rechtzeitig am Tisch steht.
In der Arbeit wird gerade die genderpolicy final bearbeitet. Wir haben verschiedene policies zu Arbeitssicherheit, Kinderrechten und anderen topics. Würden Geldgebeorganisationen nicht nach den policies fragen, wären wir wahrscheinlich nicht so fleißig dabei, sie zu verfassen. Oft habe ich das Gefühl, Gendergerechtigkeit ist erfüllt, wenn zwei von vier Positionen mit Frauen besetzt sind, wenn wir gleichviele Männer und Frauen interviewen, wenn wir gleichviele Schülerinnen und Schüler zu Aktionen einladen. Mir ist schon klar, dass gesellschaftliche Veränderung viel Zeit braucht, aber ich denke, es ist wichtig, dass die Leute sehen, dass wir weit von Gleichstellung entfernt sein können, selbst wenn alle Quoten erfüllt sind. Es ist gut, auf Gleichgewicht zu achten, aber es muss auch klar sein, dass das nur ein Schritt zur Gleichstellung ist.
So erzählte mir ein Freund, der auch aus Deutschland kommt und in einer lokalen NGO arbeitet, dass ganz selbstverständlich die Frauen in der Organisation sich bei Events ums Essen kümmern, außerhalb ihrer Arbeitszeit und ohne extra Entlohnung. Bei mir ist auch die Sekretärin zuständig, meinem Chef das Essen zu bringen. Als dann Fatmata nicht da war und auch meine Kollegin nicht ins Büro kam, war mein Chef ganz verwirrt, weil wer bringt ihm denn dann heute sein Essen? Manche Aufgaben werden sehr klar nur an weibliche Teammitglieder gegeben. Ganz selbstverständlich.
Als wir vor ein paar Wochen in der Yawri Bay unterwegs waren, haben sich meine Kollegen auch immer sehr selbstverständlich an den Tisch gesetzt und gewartet, bis unsere Kollegin ihnen das Essen auf den Teller, den Teebeutel in die Tasse und das Wasser eingeschenkt hat. Bis ich dann einmal zu ihr sagte, dass sie die Kollegen nicht bedienen muss. Stimmt, hat sie dann gesagt und sich wieder hingesetzt. Da werden ganz viele erlernte Handlungsweisen abgespult. Es geht mir nicht darum, meinen Kollegen nicht den Tee vorzubereiten. Ich mache das auch. Aber nicht, weil es meine Aufgabe als Frau ist, sondern weil ich es gerne mache. Genauso wie ich mich auch freue, wenn jemand anders mich umsorgt. Ich habe mich aber jetzt entschieden, in diesen Fällen nicht mehr den Mund zu halten. Ich glaube ganz fest daran, dass wir als Gesellschaft stärker sind, wenn wir alle stark sind. Und dafür ist es wichtig, dass alle geben und nehmen können. Dass alle Hilfe anbieten, aber auch alle Hilfe akzeptieren können. Auf verschiedenen Ebenen. Und wenn meine Kollegin persönlich gestärkt und selbstbewusster aus unserer gemeinsamen Zeit herausgeht, wäre das ein Gewinn für sie persönlich und auch für die Organisation.
Einerseits heißt es immer Mal wieder „ladies first“ und wenn ich vom Workshop meine „schwere“ Tasche trage, bieten immer Kollegen an, die Tasche für mich zu tragen, weil das macht man so in der Kultur hier. Frauen tragen nicht schwer und Männer lassen sie keine schwere Arbeit verrichten. Ich kann in diesen Situationen leider beim besten Willen ein lautes Lachen nicht unterdrücken. Früher habe ich meinen Mund gehalten. Jetzt nicht mehr. Meine Kollegen frage ich dann immer, wer denn das Wasser auf dem Kopf nachhause trägt, wer das Feuerholz sammelt und teilweise weite Strecken trägt, wer die Klamotten wäscht, wer kocht, Mais und Casava stampft und die Kinder dabei immer am Rücken hat? Ich will damit nicht sagen, dass die Männer nicht körperlich schwer arbeiten. Aber oft wird gar nicht gesehen, was Frauen alles leisten. Teilweise zusätzlich zu einem Job im Büro, einem Verkaufsstand oder einem kleinen Restaurant. Meine Kollegen wissen dann nicht so genau, wie sie reagieren sollen. Es ist auch etwas gemein. Sie wollen höflich zu mir sein und ich konfrontiere sie mit der gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen. Meine Hoffnung ist, kleine Steinchen ins Rollen zu bringen. Insbesondere der Blick auf unbezahlte Arbeit im Haushalt ist ja ein Thema, das oft übersehen wird in der Diskussion um Geschlechtergleichstellung. Gleichstellung und Gleichbehandlung wird in Sierra Leone normalerweise als positiv bewertet. Ich bin mir aber nicht sicher, ob alle Männer wirklich alle Sphären des Lebens im Kopf haben, wenn sie darüber reden. Und auch viele Frauen haben in der Diskussion meist nur die Gleichstellung und Gleichbehandlung außerhalb der eigenen vier Wände im Kopf.
Ich bin kein Objekt!
Ähnliche Situationen wie die eben erwähnten, kennen die meisten. Was aber in Sierra Leone für mich hinzukommt ist die Behandlung von Frauen als wären wir Objekte. Oft fühle ich mich nicht als Subjekt wahrgenommen. Männer erheben Besitzansprüche, die ihnen absolut nicht zustehen. Das beginnt damit, dass Typen, denen ich in einem guten Moment meine Telefonnummer gebe, echt verärgert sind, wenn ich nicht antworte und noch besser: wenn ich mich nicht täglich von mir aus melde. Was bringt einen Menschen dazu, zu denken, dass ein fremder Mensch, der seine Nummer nur zögerlich herausgegeben hat, in der Pflicht ist, dir täglich guten Morgen zu wünschen? Ohne Aufforderung! Deshalb gebe ich jetzt meine Nummer nicht mehr heraus. Und erkläre auch immer weshalb. Das sorgt zwar manchmal für Verwirrung, aber das kann ich nicht ändern. Alleine die Tatsache, dass erwartet wird, dass ich meine Nummer mit jedem wortwörtlich hergelaufenen Mann teilen möchte, bedarf sehr viel Selbstbewusstsein und Standfestigkeit meinerseits, wenn ich sie nicht teilen möchte. Das ist für mich eine wunderbare Übung, zu lernen nein zu sagen. Männer sind es nicht gewohnt, ein nein zu hören und es zu akzeptieren.
In meinem letzten Beitrag habe ich schon anklingen lassen, dass ich während der Tage in den communities in der Yawri Bay immer wieder mit der für mich traurigen und krassen Lebensrealität der Frauen konfrontiert wurde. Angefangen hat es direkt am ersten Abend, als wir noch ein paar Beiträge am Fischstrand gedreht haben. Das ist der Strand in Tombo. Dort kommen die Fischer mit ihren Booten an, tragen ihren Fang an Land und die Frauen übernehmen ihn und verkaufen die Fische weiter. Männer können sich frei bewegen. Frauen müssen ihr Haar bedecken. Ohne Kopfbedeckung dürfen Frauen nicht an den Strand. Auf die Frage, weshalb das so ist, habe ich keine Antwort erhalten.
Als wir ein paar Tage später in der Nähe von Shenge nochmal am Strand waren, kam das Thema nochmal auf. Wir sind alle zusammen am Strand entlang gelaufen. Die Fischer, die da saßen und ihre Netze geflickt haben, haben uns auch gegrüßt beim Vorbeilaufen. Meine Kollegin hat sich dann irgendwann zu ein paar von den Fischern gesetzt, weil sie nicht so weit laufen wollte. Als wir sie am Rückweg wieder eingesammelt haben, war sie in einer Diskussion mit den Fischern. Sie hatte den Pulli von dem einen auf dem Kopf. Ihr war vorgeworfen worden, dass wir beide ohne Kopfbedeckung am Strand waren und ich hätte nicht einmal gegrüßt. Als Gast sollte ich mich doch an die lokalen Regeln halten. Wir haben das dann geklärt. Gegrüßt hatte ich nämlich! Dass wir auch dort den Kopf hätten bedecken müssen, wussten wir nicht. Wir waren ja nicht direkt an einem Fischstrand. Auf dem Weiterweg haben wir dann noch über die Situation und diese Regel diskutiert. Ich bin neben Woodie gelaufen. Er kommt aus der Gegend und arbeitet schon lange mit uns, setzt sich für die Mangroven ein und ist eigentlich im Umgang mit uns und anderen Frauen nicht respektlos oder so. Aber er sieht keine Diskriminierung in der Tatsache, dass Frauen ihren Kopf bedecken müssen und Männer nicht. Ich habe versucht zu erklären, dass es aus meiner Sicht sehr wohl diskriminierend ist, weil es eine Andersbehandlung ist, die eine bestimmte Personengruppe in ihrer Freiheit einschränkt. Das wurde von meinem Gegenüber nicht so gesehen. Ich habe auch versucht zu sagen, dass wenn niemand mehr den Grund für eine Regel oder eine Tradition kennt, es auch an der Zeit sein kann, diese Tradition zu überdenken.
Die Argumentation ist oftmals, dass das eben so ist in Afrika und in Afrika Tradition eben sehr wichtig ist und man das in Afrika nicht ändern kann. Wenn ich dann sage, dass wir in Europa auch sehr viele Traditionen haben und uns diese sehr wichtig sind, glauben mir die Leute nicht wirklich. Zu sehr ist das koloniale Bild von Afrika und seinen Menschen in die Köpfe zementiert. Immer wieder erschreckend. Europa wird als technisch und fortschrittlich wahrgenommen, Afrika als traditionell und unterentwickelt. Aber das ist ein anderes Thema. Dieses Selbstbild macht es gesellschaftlichem Wandel aber doppelt schwer. Wenn argumentiert wird, dass Wandel nicht möglich ist, ist es umso schwerer, ihn auch nur anzustoßen.
Als Woodie dann noch den Islam in die Diskussion brachte, habe ich die Diskussion abgebrochen. Ich fühle mich (noch) nicht in der Lage die Religion in Frage zustellen. Als Woodie begann mit dem Koran zu argumentieren, habe ich gesagt, dass ich nicht über Religion diskutieren möchte. Allerdings habe ich noch gesagt, dass ich glaube, wenn eine Frau Allahs Worte gehört hätte und sie aufgeschrieben hätte, würde im Koran manches anders stehen. Ob er verstanden hat, was ich damit sagen wollte, weiß ich nicht.
Schön fand ich in der ganzen Diskussion auch, als einer meinte, die Frauen würden auch diskriminieren, weil es einen besonderen Ort gibt, an dem alle die Schuhe ausziehen müssen. Auf meine Nachfrage, ob Männer und Frauen die Schuhe ausziehen müssen, wurde mit ja geantwortet. Dann ist es keine Diskriminierung, weil ja alle gleich behandelt werden, meinte ich. Ach so, stimmt.
Im letzten Beitrag habe ich schon kurz über die Toilettensituation in dem einen Dorf gesprochen. Die meisten Dörfer sind ähnlich aufgebaut. Es gibt eine Hauptstraße in der Mitte, die ein bisschen breiter ist und links und rechts davon sind dann die Häuser, manchmal gibt es auch noch Häuser in zweiter Reihe. Es gibt keine Teerstraßen. Der Untergrund der Straßen oder kleinen Plätze besteht aus festgetrampeltem Lehm oder Erde. In dem Dorf, in dem wir übernachtet haben, war das so ähnlich. Es gab einen kleinen Dorfplatz, mit einem großen Baum in der Mitte. Als wir angekommen sind, wurden Holzbänke und Stühle aus verschiedenen Häusern herbeigetragen, sodass wir uns hinsetzen konnten. Meist sitzen die Männer am Dorfplatz oder vor den Häusern. Die Frauen sitzen oft zusammen irgendwo anders. Manchmal gibt es eine Kochstelle, die mehrere Familien gemeinsam nutzen, manchmal hat jedes Haus seine eigene Kochstelle. Das ist immer ein bisschen unterschiedlich in den Dörfern. Es gibt alleinstehende Häuser und dann gibt es manchmal auch Häuser mit mehreren Zimmern, in denen dann mehrere Familien oder alleinstehende Männer wohnen.
In dem Dorf haben wir in einem Haus übernachtet, in dem mehrere Zimmer waren. Hinter dem Haus gab es eine überdachte Kochstelle und daneben war ein „Toilettenhäuschen“ mit drei kleinen Kabinen. Zwei Toiletten und eine Dusche. Bei der Dusche war ein Loch im Boden, damit das Wasser gut abfließen kann, bei den Toiletten ist meist noch etwas aufgemauert, so dass man sich gemütlich in der Hocke über das Loch setzen kann. Die Kabinen sind zu einer Seite offen. Die Öffnungen sind mit alten Reissäcken verhangen, die man herunterlassen kann, aber es gibt keine Türe oder so, die man zumachen kann. Auch die Reissäcke verdecken die Öffnungen nicht vollständig. Erst fand ich das voll komisch, da jede Person, die hinter der Kabine vorbeiläuft, mich sehen kann, während ich dusche oder mein Geschäft verrichte. Als ich ein bisschen nachgedacht habe, wurde mir klar, dass es gleichzeitig für mehr Sicherheit für die Frauen sorgt. Erstens ist das Toilettenhäuschen genau neben der Stelle, an der die Frauen kochen. Das heißt, dass eigentlich immer Frauen da sind und mitbekommen, wer da hingeht. Dadurch, dass alles offen ist, kann jeder und jede jederzeit hineinschauen und sehen, was passiert. Damit kann niemand eine Frau bedrängen oder ihr irgendwas antun, während sie am Klo ist oder während sie duscht. Als ich in der Dunkelheit nochmal aufs Klo bin, hat eine Frau sich einfach im Freien geduscht, neben der Kochstelle. Schwarzer Körper sieht man ja nicht in der Dunkelheit. Sie konnte im Freien duschen, direkt neben den anderen Frauen, und war zugleich geschützt. Mir ist da nochmal echt bewusst geworden, wie verletzlich und wie angreifbar die Frauen sind.
Noch ein weiteres kleines Beispiel zum Thema: Frauen sind Objekte. Ich bin mit meiner Kollegin und Woody in einem anderen Dorf von unserer Unterkunft zu den anderen gelaufen. Dann kommt ein alter Mann vorbei und spricht nur Woddy an. Das regt mich ja schon mal auf. Wenn ich nicht angesprochen werde, sondern über mich in meiner Anwesenheit gesprochen wird. Ich empfinde das als sehr verletzend und entmündigend. Der alte Mann spricht also nur Woody an und sagt dann auch noch „Du hast zwei Frauen, ich habe keine. Gib mir eine.“ Ich weiß nie, wie ich auf so etwas reagieren soll. Ich finde das unmöglich, total erniedrigend. Aber offensichtlich ist es total ok und normal. Es reagiert überhaupt niemand auf soetwas. Weder meine Kollegin, noch Woody. Wenn ich mir vorstelle, dass das Gleiche in Deutschland passieren würde… Ich kann mir das gar nicht vorstellen ehrlich gesagt. Wenn ich über all das nachdenke, wird mir immer bewusst, welch große Unterschiede es gibt in der Wahrnehmung von Frauen und dass sie in Sierra Leone eine ganz andere Stellung in der Gesellschaft haben als in Deutschland.
Als wir wieder in Freetown waren, kam Schwarbu, einer der Filmemacher nochmal bei uns im Büro vorbei, um uns das ganze Filmmaterial zu geben. Ich weiß gar nicht genau wie, aber irgendwie sind wir dann auch nochmal auf das Thema Frauen gekommen. Schwarbu hat erzählt, dass er in dem einen Dorf mit ein paar Frauen gesprochen hat. Die Frauen haben ihm erzählt, dass wenn die Männer vom Fischen kommen, erwarten sie, dass das Essen schon fertig ist. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat die eine gesagt, einmal war das Essen noch nicht fertig und dann hat ihr Mann sie ins Feuer geschubst, also in die heißen Kohlen. Häusliche Gewalt ist Alltag hier für die meisten Frauen. Es ist sehr normal, dass Männer Frauen schlagen, auch wirklich schlimm schlagen man. Auch in Freetown sehe ich immer wieder mal Frauen mit blauen Flecken im Gesicht.
Die Frauen im Dorf haben auch berichtet, dass die Männer heimkommen, essen wollen und Sex wollen, aber es ist sehr egal, was die Frauen wollen. Die Frauen legen sich hin und lassen es über sich ergehen. Es gibt keine Zärtlichkeit, kein Miteinander. Es geht um Triebbefriedigung für den Mann. Die Bedürfnisse und Gefühle der Frauen spielen dabei keine Rolle. Obwohl die Frauen es einerseits gewohnt sind, dass über sie und ihren Körper bestimmt wird, sprechen sie mit einem fremden Mann über solche Themen. Das wiederum finde ich ganz spannend. Sie sind nicht ängstlich oder eingeschüchtert.
In der jüngeren Generationen ändert sich das Verhältnis oder auch die Beziehung zwischen Männern und Frauen. In der Stadt stärker und schneller als auf den Dörfern. Ich bekomme das mit, wie meine Kollegen über Frauen und Mädchen reden und über ihre Beziehungen zu ihnen. Im Gespräch sagen meine Kollegen, sie wollen nicht, dass ihre Töchter schlecht behandelt werden oder dass ihre Töchter irgendwann einen Mann haben, der keine Rücksicht auf ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse nimmt.
Aber der Alltag für die Frauen in den Dörfern ist sehr stark fremdbestimmt durch Regeln, was sie zu tun und zu lassen haben, durch Regeln, was sie tragen dürfen und was sie nicht tragen dürfen, durch religiöse Regeln, aber auch durch kulturelle Regeln. Auch die Genitalverstümmelung ist ein extremer Eingriff in den Körper der Frau. Die Objektivierung der Frau, dass sie nicht als gleichberechtigtes Subjekt wahrgenommen wird, sondern als Objekt, mit dem Mann machen kann, was Mann will, das einem zu dienen hat, das keine eigenen Ansprüche und Bedürfnisse hat, die irgendwie erfüllt werden wollen. Das ist mir in diesen Tagen an denen wir unterwegs waren nochmal sehr schockierend bewusst geworden. Es ist nicht so, dass die Unterdrückung im Alltag ständig sichtbar ist. Viele Frauen treten auch in der Öffentlichkeit stark auf und diskutieren mit Männern lautstark. In der Stadt ist das normal, gerade in Freetown. In den Dörfern sieht man das nicht so sehr.
Das sind alles die kleinen und größeren Situationen, denen ich im Alltag begegne. Hinzukommt noch alles, was nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Ich weiß, dass wahrscheinlich über 90% aller Frauen mit Genitalverstümmelung leben. Aus meiner Sicht ist das eine Methode von Männern, um Frauen zu unterdrücken, ihnen Lust an ihrem Körper zu nehmen und sie einzuschränken. Ich weiß, dass die Mädchen, die kaum alt genug aussehen, um schon ihre Menstruation zu haben und dennoch mit dicken Babybäuchen herumlaufen, sich bestimmt nicht freiwillig und bewusst für Sex und Schwangerschaft entschieden haben. Es ist mir klar, dass das Mädchen, das mit 14 in der vierten Klasse noch nicht den eigenen Namen buchstabieren kann, wahrscheinlich auch nicht viel über ihre eigenen Rechte weiß. Was bringen Billboards an den großen Überlandstraßen mit Aufschriften wie „Education is my right. Marriage is my choice.“, wenn diejenigen, um die es geht weder lesen können, noch Englisch sprechen noch jemals soweit aus ihrem Dorf kommen werden, um auch nur in die Nähe des Billboards zu kommen? Aber gut, irgendwo muss man anfangen.
Ich merke, dass meine (jüngeren) Kollegen anders ticken. Es ist ein sehr großer Unterschied zwischen Stadt und Dorf und auch der Bildungsgrad macht in meiner Wahrnehmung einen sehr großen Unterschied, wie Frauen und Mädchen wahrgenommen und behandelt werden. Bildung, Vorbilder, Austausch sind wohl wie immer die wichtigsten Treiber für Veränderung und Wandel.
Wenn ich mir bewusst mache wie Mädchen in den Dörfern in Sierra Leone aufwachsen und bestimmt auch immernoch in den Städten, empfinde ich sehr sehr große Dankbarkeit, dass ich anders aufwachsen durfte, dass ich nicht das Gefühl hatte, anders behandelt zu werden, weil ich ein Mädchen bin; dass ich das Gefühl habe, egal ob als Kind als Jugendliche oder jetzt als Erwachsene, dass Männer mich zwar vielleicht anders behandeln als sie andere Männer behandeln würden, aber sie behandeln mich nicht als Objekt über das sie bestimmen können, das sie besitzen können, sondern ich habe das Gefühl, ich werde als Mensch wahrgenommen. Dass das nicht selbstverständlich ist, ist sehr schmerzhaft für mich. Ich finde es wirklich sehr schlimm das anzusehen und nicht viel tun zu können. Wie krass auch, dass ich Dankbarkeit empfinde, für etwas, das normal sein sollte…
Es ist nicht so, als ob das Thema Benachteilung und Unterdrückung von Frauen mir nicht schon vorher begegnet wäre, aber ich hatte einfach überhaupt gar keine Kapazitäten, mich mit einem so großen Thema zu beschäftigen. Da war so viel, was ich verarbeiten und verstehen musste, um im Alltag klarzukommen. Ich merke, jetzt ist der Alltag gerade für mich nicht mehr anstrengend in Sierra Leone. Das ist ein ganz wunderschönes Gefühl. Nach eineinhalb Jahren bin einfach da und es ist gut und es geht mir gut. Jetzt habe ich Kapazitäten frei, um tiefer in den gesellschaftlichen Alltag einzutauchen und stehe wohl eher vor der Herausforderung wie ich mit all den Ungerechtigkeiten umgehe, in die ich nun noch tiefer eintauchen werde.
Was ich heute geschrieben habe, hört sich streckenweise sehr crass an, habe ich gemerkt, als ich den Text nochmal gelesen habe, bevor ich ihn veröffentliche. Die Realität ist leider manchmal sehr hart. Ich möchte das gar nicht abschwächen. Ich möchte nur sagen, dass ich auch sehr oft sehr viel Wertschätzung wahrnehme zwischen den Geschlechtern und der Alltag nicht immer und von allen Frauen von Benachteiligung und Unterdrückung geprägt ist. Aber es gibt dennoch viele Situationen, in denen ich eine Schieflage wahrnehme und diese nicht akzeptieren möchte. Vielleicht wird das mein Ding fürs neue Jahr. Für mich lernen, wie und wann ich meinen Mund aufmache, um Situationen für mich selbst, aber vor allem auch für andere zu verbessern.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen Kraft und Weisheit für das neue Jahr. Es gibt doch diesen einen Spruch „Gebe mir die Gelassenheit, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann, die Kraft, das zu verändern, was ich ändern kann und die Weisheit, zwischen beiden zu unterscheiden.“ Ich bin mir sicher, wir können viel mehr verändern, als wir denken. Wir brauchen dafür bestimmt sehr sehr viel Kraft. Aber ich bin mir auch sicher, dass es sich lohnt. Ich wünsche mir und uns allen für das neue Jahr ganz viel Kraft und Weisheit, damit wir Situationen, die nicht akzeptabel sind, verändern können.
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