Monat: Mai 2023

The forest don go

Ich schreibe mal wieder aus Kenema, von der Terasse des Paloma Hotels. Morgen startet der zweite Workshop um unsere Kommunikationsstrategie hoffentlich fertigzustellen. Auch wenn sich mal wieder alles ins Unendliche verzögert hat in den letzten Wochen – wir hatten kaum Strom in Freetown, weshalb das Filmteam nicht wirklich an den Filmen weiterarbeiten konnte – höre ich nicht auf, zu hoffen, dass wir die Filme noch fertig bekommen, bevor ich mich im Juni in den Urlaub verabschiede.

Was machen die Häuser da in den Hügeln?

Ich war das letzte Mal im November hier in Kenema, um das Filmmaterial für unsere Filme über den Gola Rainforest und das Kambui Hills Forest Reserve zu drehen. Wer immer hier lebt, sieht es vielleicht nicht so cras, aber für mich, die immer nur alle paar Monate hier ist, ist es jedes Mal wieder schockierend. Ich bin erst seit zwei Jahren hier und ich sehe den Wald verschwinden. Ich höre mich schon an, wie eine alte Frau. Ich erinnere mich noch daran, als die Hügel alle voll bewaldet waren. Es geht mit erschreckender Geschwindigkeit voran. Und ich habe schon Angst, wie es wohl bei meinem nächsten Besuch aussehen wird. Wenn ich im Herbst wiederkomme, wieviel Wald wird dann noch da sein? Wie viele Bäume werden durch Häuser ersetzt worden sein?

Ich kann es kaum in Worte fassen, für die, die es nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Bevor man die Stadt erreicht, erheben sich zu beiden Seiten der Straße Hügel, die eigentlich bewaldet waren. Eigentlich ist es ein Forest Reserve. Aber die Grenze und die sogenannte Bufferzone wird konstant neu definiert. Als ich das erste Mal hier war, haben mir meine Kollegen schon erklärt, dass in der früheren Bufferzone, einer der Minister, der aus Kenema stammt, eine neue Straße gebaut hat (die übrigens nach dem aktuellen Präsidenten benannt ist) und in dieser Straße ein Hotel mit Club und Restaurant gebaut hat. Deshalb ist die Bufferzone schon mal weiter in die Hügel gewichen.

Jetzt sehe ich, dass überall in den Hügeln, auf die ich schaue, während ich hier auf der Terasse sitze, Häuser entstanden sind in den letzten Monaten. Im Herbst war da noch Wald, jetzt ist es kahle Fläche und Bebauung. Noch schlimmer sieht es aus, wenn man in die Stadt einfährt. Der eine Hügel ist vollständig abgeholzt und offensichtlich hat der Regen der letzten Tage einen Erdrutsch verursacht. Eine riesengroße Narbe ist entstanden. Was eigentlich grün und bewaldet sein sollte, ist nun rote Erde. Der Korridor, der die Kambui Hills Süd und Nord verbindet, und der es Tieren ermöglicht hat, vom Südteil in den Norden zu wandern, ist vollständig verschwunden.

Demotivierend oder neue Motiviation?

Seit ein paar Jahren schon sind Kollegen von mir hier aktiv und versuchen mit den communities zu arbeiten, mit Regierungsbehörden und mit den lokalen Verwaltungsstrukturen, um das Forest Reserve zu bewahren. Offensichtlich ohne Erfolg. Wenn ich das sehe, würde ich am liebsten in den Flieger steigen und wegfliegen. Was für einen Sinn hat unsere Arbeit eigentlich? Oder vielleicht sollte es mich eher motivieren. Was müssen wir an unserer Arbeit ändern? Was müssen wir machen, um die letzten Reste des Waldes zu schützen? Es gibt hier Schimpansen, Schuppentiere, und einige bedrohte Vogelarten. Offensichtlich ist es den Menschen und vor allem den Entscheidungsträgern  egal. Verstehen sie echt die Zusammenhänge und die Bedeutung des Waldes nicht oder denken sie, er ist doch unendlich?

Dabei ist echt eine Wohltat, wenn man aus Freetown kommend, hier aus dem Auto steigt. Die Luft ist kühl, es ist schon fast kalt möchte ich behaupten. Ich ärgere mich, dass ich kein Jäckchen eingepackt habe. Zwischen den Hügeln dehnen sich die Reisfelder aus, aber für wie lange werden sie genug Wasser haben, um den Reis anzubauen, wenn der ganze Wald bald weg ist?

Wenn unsere Videos irgendwann mal fertig sind, werdet ihr sehen, was ich meine.

Die Sonne ist jetzt hinter den Hügeln untergegangen, so dass die scenery sich verändert hat. Nun sehe ich nicht mehr die entwaldeten Stellen, nur noch die Silhouette der Hügel. Ganz oben ist der Wald noch da, so dass es fast wie „früher“ aussieht.

Black Johnson Beach – außer Kopf schütteln bleibt uns nichts

Das Umweltschutz nichts für Schön-Wetter-Leute ist, war mich schon klar. Aber hier wird es mir sehr klar. Viel klarer als mir lieb ist. Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich vor ein paar Wochen über Black Johnson Beach geschrieben haben. Ein kleines Paradis in der Nähe von Freetown, das für einen irrwitzigen Fischereihafen zerstört werden soll. Irrwitzig, weil wer die Bucht kennt, sofort sieht, dass das Wasser nicht tief genug für große Thuna-Schiffe ist und dass die Pläne die gesamte Bucht verwandeln und zubetonieren würden. Die Machbarkeitsstudie wurde unter fragwürdigsten Bedingungen erstellt. Und nach wie vor liegt offensichtlich keine Lizenz für das chinesische Unternehmen vor, das die Pläne umsetzen sollen.

Heute morgen noch Schildkröten und am Nachmittag die schweren Maschinen

Heute morgen noch postete Jane (eine Britin, die seit vielen Jahren in Black Johnson wohnt), Videos von Meeresschildkröten, die in Black Johnson gerettet wurden. Nur wenige Stunden später postete sie Fotos und Videos von schweren Maschinen, die am Strand ankamen und dokumentierte, dass anscheinend irgendwelche Vorarbeiten begonnen haben.

Ich denke, wir verstehen alle, dass das Land Entwicklung braucht, dass Industrien aufgebaut werden müssen und natürlich muss es Kompromisse geben zwischen Mensch und Natur. Aber wenn es so offensichtlich wie hier in Black Johnson ist, dass es um Geld geht, weil der ausgewählte Ort selbst für Laien absolut ungünstig erscheint und außerdem das Gutachten nicht sauber erstellt wurde, dann ist das kein guter Kompromiss. Es ist eigentlich gar kein Kompromiss. Es ist viel mehr dumm und waghalsig. Als ich letztes Jahr bei der öffentlichen Anhörung war, habe ich mich zu Wort gemeldet und gefragt, ob denn untersucht wurde, welche Folgen für die Strände südlich von Black Johnson erwartet werden. Das sind die Strände, an denen es Tourismus gibt. Ich gehe davon aus, dass sie alle zerstört werden, durch dieses Großvorhaben. Die Strömungen, die Strände, die Ökosysteme, alles wird sich ändern.

Ich sehe schon, wie sehr sich Bureh Beach verändert, wegen des Sand minings, das am Nachbarstrand stattfindet. Was wird da erst ein riesiger Hafen anstellen, für dessen Schiffe Gräben ausgehoben werden müssen, der Abfälle produziert und mit Sicherheit die Wasserqualität nicht verbessern wird.

UN Decade for Restoration

Die UN hat die Dekade der Restoration von Ökosystemen ausgerufen. Aufforstungsprojekte auf der ganzen Welt werden gefördert und promoted. Diese Projekte schenken Hoffnung, aber sie sind vielleicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wer weiß. Wenn wir aber die Hoffnung verlieren, können wir direkt einpacken. Deshalb haben wir gar keine Wahl, als an der Hoffnung festzuhalten.

Ich versuche, während ich euch schreibe, heimlich das Gespräch am Nebentisch zu verfolgen. Die drei Herren reden über den Regenwald. Da werde ich natürlich sofort neugierig und möchte wissen, für welche Organisation sie arbeiten und was sie hier machen. Der eine Herr ist anscheinend aus den Niederlanden, einer der anderen anscheinend aus Ghana oder Nigeria. Das habe ich nicht so gut gehört. Ich werde gleich mal versuchen, mich in deren Gespräch einzuklinken.

Deshalb überlasse ich euch nun euren Gedanken und empfehle euch, die Filme der Flagship Projekte für Restoration. Es ist ganz spannend, weil sie aus ganz unterschiedlichen Erdteilen kommen. Wir starten unser Restoration Projekt in der Yawri Bay dieses Jahr, vielleicht können wir dann auch etwas dazu beitragen, zerstörte Ökosysteme wieder aufzubauen.

Das sind nur ein paar Videos aus der Serie. Die ganze Serie könnt ihr euch online anschauen: https://www.decadeonrestoration.org/restore-films-frontiers-hope

The only thing I want is peace! – Ein pre-election Bericht

Vorletzte Woche war mal wieder ein Lehrstück in Frustrationsmanagement in der Arbeit. Aber ich habe die Situation sehr gut gemeistert und mich einfach mal eingehend mit meiner Kollegin über ihre Wahrnehmung der aktuellen Situation bezüglich der Wahlen im Juni unterhalten. Ihr bekommt heute mal ganz viel Lesestoff zur pre-election-situation.

Ganz kurz nur: warum Frustrationsmanagement? Im letzten Beitrag habe ich ja geschrieben, dass einige Projekte vorwärts gehen. Naja, was soll ich sagen. Sie sind immer noch dabei, vorwärtszugehen, aber es gibt immer noch keine Ergebnisse. Da muss ich mich immer wieder selbst erinnern, dass ich mir selbst bis Anfang Juni Zeit gegeben habe. Also, alles noch im grünen-gelben Bereich.

Aber wie steht es eigentlich mit den Wahlen?

Die Wahlen und der Wahlkampf sind immerwährendes Thema seit einigen Wochen. Ich erinnere mich, dass ich schon im Februar mit einem Kollegen von Brot für die Welt gesprochen habe, dessen Büro eher in der Innenstadt ist und er mir von einem Vorfall erzählt hat. Wir hatten im Februar/März Kundgebungen von den beiden großen Parteien SLPP (aktuell an der Regierung) und APC (aktuell Opposition). Als die Kundgebung der SLPP stattfand (deren Farbe ist grün) kam es auf der Straße direkt vor dem Büro meines Kollegen zu einer Auseinandersetzung. Ein Mann in einem roten T-Shirt (ganz klar die Farbe der APC) sagte irgendetwas zu SLPP-Anhängern. Daraufhin gab es ein kurzes Wortgefecht auf der Straße, das damit endete, dass der Anhänger der aktuellen Regierung dem roten T-Shirt hinterherrief: „Letztes Mal haben wir euch ohne Waffen besiegt und dieses Mal haben wir auch Waffen.“

Ein Wortgefecht auf der Straße während eines Wahlkampfes ist natürlich nichts Unübliches und sollte ja in einer Demokratie durchaus zur Normalität gehören, aber Androhung von Waffengewalt, um den Sieg zu erringen? Kann ich mir gerade in Deutschland nicht wirklich vorstellen.

In den letzten Wochen gab es immer wieder ähnliche Vorfälle. Im Radio ist die Wahl das Thema und auch auf der Straße. Es gibt viele Radio-jingle die von peaceful elections singen, viele Medienleute versuchen Peace-messages zu senden, um den Frieden zu wahren und auf die Einheit der Nation zu verweisen. Es gibt keine Radiodiskussion ohne Bezug zu den Wahlen. Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich Radio Democracy höre, da wird wahrscheinlich nicht so zu Streit aufgewiegelt. Auf der Straße ist der Wahlkampf allgegenwärtig, da überall Wahlplakate stehen. Das macht die Teilnahme am Straßenverkehr nicht unbedingt gefahrloser. Riesige Plakate versperren die Sicht, nicht nur auf gerader Strecke, sondern auch an Kreuzungen, die nun kaum mehr einsehbar sind. Die Plakate reichen teilweise auch bis auf die Fahrbahn, so dass diese verengt wird. Nach jedem Sturm liegen einige Plakataufsteller herum und behindern den Verkehr auch dadurch. Aber das sind eigentlich die geringsten Einschränkungen.

Urlaubsgeld und Vorräte

Wie kam es nun zu meinem ausführlichen Gespräch mit meiner Kollegin? Angefangen hat es damit, dass unsere HR und Admin in unserem Büro war um irgendetwas wegen der Urlaubstage zu klären. Das betrifft mich nicht, da mein Vertrag ein bisschen anders ist. Meine Kolleginnen und Kollegen bekommen zum Beispiel Urlaubsgeld. Das bekomme ich nicht. Es begann also die Diskussion, ob Mariama ihren Urlaub im August nehmen kann, aber ihr Urlaubsgeld schon Anfang Juni bekommt. Als dann Margaret, unsere HR wieder weg war und auch Abdul zu einem Termin aufgebrochen ist, habe ich nochmal nachgefragt. Und ja, ich hatte es richtig verstanden. Mariama möchte das Urlaubsgeld schon vorab haben, weil sie Essen und Trinkwasser besorgen will, so dass sie während der Wahlen das Haus nicht verlassen muss, falls die Situation gefährlich wird. Sie meinte, sie macht das meistens so während der Wahlen. Sie will eigentlich umziehen, aber das macht sie auch erst nach den Wahlen. Da wo sie jetzt wohnt, ist es ziemlich ruhig und sicher. Die Mehrheit der Leute wählt die aktuelle Regierungspartei, deshalb ist davon auszugehen, dass es dort ruhig bleiben wird während und vor den Wahlen. Das Stadtviertel, in das sie ziehen will, ist anders zusammengestellt, dort kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Das macht hier alles immer sehr viel Sinn, wenn ich das im lokalen Kontext höre. Wenn ich es aber auf Deutschland übertrage, ist es ziemlich cras. Was muss wohl passieren, dass die Menschen vor der Bundestagswahl ihre Vorräte auffüllen, so dass sie im Notfall einige Tage das Haus nicht verlassen müssen? Wenn ich die Wahl eher immer mit einem Sonntagnachmittagsspaziergang assoziiere.

Natürlich habe auch ich, die eigentlich keine lokalen Zeitungen liest, über soziale Medien schon mitbekommen, dass der Wahlkampf hier um einiges intensiver ist als in Deutschland. So wurde zum Beispiel vor zwei oder drei Wochen auf den Konvoi des Präsidentschaftskandidaten der Opposition geschossen, als er in Freetown eingefahren ist. Von Polizei- oder anderen offiziellen Sicherheitskräften. Ich erfahre davon dann meist über eine meiner Whatsapp-Gruppen oder über insta, wo ich lokalen Nachrichtenagenturen folge. Es gibt meist aber nur eine Darstellung, was passiert ist, und auch das nicht ausführlich. Es gibt aber selten Hintergrundinformationen dazu. Kurz nach den Schüssen gab es Erklärungen, die für mich nicht wirklich Sinn gemacht haben. Ich meine, was rechtfertig Schüsse auf einen Autokonvoi, wenn die nicht das Feuer eröffnet haben oder vorhaben, einen terroristischen Anschlag durchzuführen? Der Präsidentschaftskandidat war einfach nur auf dem Weg von Makeni, wo die Opposition ihre Zentrale hat, nach Freetown.

Eine weitere sehr große Aufregung gab es vor zwei Wochen, weil ein Polizist in Makeni getötet wurde. Es war nicht einfach nur ein Polizist. Der Mann war ein Mende. Nun muss ich einen ganz kurzen Exkurs in die gesellschaftlichen Identitäten machen.

There is no tribalism!

In Sierra Leone gibt es mehrere Sprachgruppen, die auch zugleich Ethnien sind, im englischen wird hier von „tribes“ gesprochen. Es wird zwar immer betont, dass es keinen „Tribalism“ gibt, also dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Tribe“ keine Bedeutung im Alltagsleben, in Politik und Beruf hat. Es wird immer betont, dass es viele „mixed marriages“ gibt, zwischen Angehörigen verschiedener tribes. Ich habe mehrfach versucht, meinen Kolleginnen und Kollegen zu sagen, dass es wenn es immer betont werden muss, anscheinend doch ein großes Thema ist. Und selbstverständlich ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sehr wohl entscheidend. Es gibt viele Zuschreibungen anhand von tribes.

Die beiden großen Gruppen sind die Mende im Süden des Landes und die Timne im Norden des Landes. Ihre Gebiete teilen Sierra Leone ziemlich genau in der Mitte und die beiden Gruppen sind ungefähr gleichgroß. Menschen aus dem Norden, Timne also, unterstützen normalerweise die APC (All Peoples Congress) und die Menschen aus dem Süden, die Mende, die SLPP (Sierra Leone People´s Party). Die beiden großen Parteien unterscheiden sich nicht wirklich in ihren Wahlprogrammen. Deshalb ist die Hauptentscheidung bei der Wahl wirklich die eigene Herkunft. Es ist klar, wenn APC an der Macht ist, wird mehr im Norden investiert und Timne bekommen wichtige Ämter. Ist die SLPP an der Macht, wird mehr im Süden investiert und Mende bekommen wichtige Ämter.

Wie entscheidend die Zugehörigkeit zu bestimmten „tribes“ ist, zeigt sich normalerweise im Alltag nicht. Aber vor den Wahlen wird es offensichtlich sehr entscheidend.

Zurück zum Tod des Polizisten in Makeni

Wie oben schon geschrieben, ist Makeni die Zentrale der Opposition. Hier war es auch letztes Jahr im August, als die Ausschreitungen stattfanden länger tense und hier gab es auch länger eine Ausgangssperre.

Vor zwei Wochen wurde ein Polizist in Makeni getötet. Es gibt verschiedene Versionen der Story, was genau passiert ist. Die eine besagt, dass der Polizist einen Motorradfahrer verfolgte, der irgendeinen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung begangen hat, andere sagen, er war einfach nur einkaufen für seine Familie, die über die Ostertage zu Besuch war. Die einen sagen, er wurde aus einem stehenden Auto heraus erschossen, andere sagen, das Auto kam angefahren und hat ihn im Fahren erschossen. So oder so, ist der Mensch tot. Weshalb das Thema so hochkochte, ist nicht nur, dass ein Polizist auf offener Straße erschossen wurde, sondern, dass dieser Polizist ein Mende war (also aus dem Süden kam und wahrscheinlich eher die Regierungspartei unterstützt) und im stronghold der Opposition erschossen wurde.

Auf einmal ist es entscheidend, wo man arbeitet und wie man heißt

Die Familie meiner Kollegin wohnt zwar in Kenema (Mende-Land), aber sie hat einen Timne Nachnamen. Am Nachnamen kann man oft die Zugehörigkeit zur tribe erkennen. Da aber hin-und-her geheiratet wird, ist das nicht immer aussagekräftig. Nichts destotrotz meinte meine Kollegin, nun sei die Zeit gekommen, wo sie mit ihrem Nachnamen vorsichtig sein müsse. Meine Kollegin erzählte mir auch, dass sie ihre Voter´s ID-Card unlängst abholen wollte. Bisher gab es in Sierra Leone keine Personalausweise oder so etwas, sondern Wähler-ID-Karten. Mit der Wähler-Karte hat man auch Bankgeschäfte und co gemacht. Im Endeffekt war es soetwas wie ein Perso, offiziell aber eine Registrierung für die Wahlen. Als meine Kollegin ihre ID-Karte abholen wollte, war die nicht auffindbar. Ich habe gefragt, ob sie denkt, dass es Absicht ist? Dass die Regierung die Karten von Leuten einbehält, deren Nachname erwarten lässt, dass sie Opposition wählen und dann diese Karte für Wahlfälschung nutzen? Darauf ist sie nicht eingegangen. Ich glaube, sie wollte einfach ihre ID-Karte. Sie sagt eh, sie weiß nicht, wen sie wählen soll dieses Mal. Sie hat in den letzten Jahren unterschiedlich gewählt und wählt nicht nur entsprechend ihrer Herkunft. Aber die Voter ID-Card ist trotzdem nicht da… Ob es mit dem Nachnamen zusammenhängt, kann man nicht wissen. Aber allein, dass derartige Vermutungen angestellt werden, ist für einen deutschen Kontext vollkommen unvorstellbar. Ihre Tochter ist in Bo auf der Uni (auch SLPP / Mende Land). Da macht sie sich manchmal ein bisschen Sorgen. Wegen des Nachnamens.

Ihre Tochter wohnt bei Verwandtschaft in Bo. Der Mann aus der Familie, bei der sie wohnt, arbeitet in Makeni. Er ist aber aus Bo. Er ist Mende. Er arbeitet einfach nur in Makeni bei irgendeiner internationalen NGO. Vorletzte Woche wollte der Mann seine Voter-ID-Card abholen, bevor er zur Arbeit nach Makeni fährt. Er ist also morgens um 9 Uhr ins Büro, wo man die Karten abholen kann. Leider war der Mitarbeiter, der das Tablett bedient (ja, hier ist jetzt alles ganz digital) nicht da. So dass alle Leute warten mussten. Nach einer Stunde wollte der Bekannte meiner Kollegin wissen, was los wäre und wie lange es noch dauert, schließlich musste er noch weiter nach Makeni zur Arbeit. Er wurde erst an die Managerin verwiesen und dann direkt an den Typen, der für das Büro in Bo zuständig ist. Als der Bekannte dann am Telefon erwähnte, dass er noch nach Makeni müsse, änderte sich die Stimmung vollständig. Der Chef kam persönlich, beschimpfte ihn, dass nun schon Leute aus Makeni kämen und ihnen in Bo das Leben schwer zu machen, er wollte ihn fotografieren und auf den sozialen Medien veröffentlichen, er rief sogar die Polizei, so dass der Bekannte dann erst einmal mit auf die Wache genommen wurde. Nur weil seine Frau Kontakte in Freetown hat und diese mobilisierte, wurde er am späten Nachmittag wieder freigelassen.

Was ist da passiert? Jemand will seine ID-Card abholen, fragt nach, wieso das so lange dauert und wo der Typ ist, der fürs Tablett zuständig ist und landet in Polizeigewahrsam, nur weil er in einer bestimmten Stadt arbeitet. So viel zum Thema, es gibt keinen tribalism und wir sind alle ganz entspannt und peaceful.

Gerüchte über Gerüchte

Eines der Hauptprobleme ist, dass es immer zu allem so viele Geschichten gibt und man sie nur schwer verifizieren kann. Diese Story zum Beispiel mit dem erschossenen Polizisten, dann die mit den Voter-ID-Cards. Was wirklich stimmt und was wirklich passiert ist, lässt sich nur schwer herausfinden, vor allem, weil die meisten Menschen ihre Informationen aus den sozialen Medien ziehen.

Als ich letzte Woche am Strand in Bureh war, hat mich die eine Freundin gefragt, ob es stimmt, dass es eine Ausgangssperre geben wird vom 27. April bis zum 1. Mai. Sie habe das aus den sozialen Medien gehört. Angeblich hätte das der eine Influencer gesagt, der schon die Proteste letztes Jahr im August provoziert hat. Er sitzt in Kanada oder Holland, ich weiß das immer nicht genau, und stiftet hier Verwirrung. Er sagt einfach, „Leute, die Regierung will euch einsperren und erlaubt euch nicht Independence Day zu feiern. Das lassen wir uns nicht bieten. Wir gehen auf die Straße.“ Und dann gehen die Leute auf die Straße und protestieren gegen etwas, das nie auch nur zur Diskussion stand. So kann man echt Chaos generieren. Zum Glück hat sich das Gerücht nicht durchgesetzt. Aber es zeigt, wie verunsichert die Leute sind und dass sie nicht wissen, wem sie glauben sollen.

Das zieht sich durch den Alltag. Es war lange nicht klar, ob es am 27. April, am Unabhängigkeitstag, öffentliche Proteste und Ausschreitungen geben wird, oder einen „Sit-In-Protest“. Am Ende wurde zu einem Sit-In aufgerufen und alles blieb ruhig. Hätte aber auch anders sein können. Aber auch für mich war das komisch. Ich wollte am 27. April nach Bureh fahren. Wir haben also erst einmal abgewartet, was passiert. Als bis mittags alles ruhig geblieben ist und ein paar Leute, die ich bei der Europäischen Union kenne, auch Richtung Strand aufgebrochen sind, sind wir auch los. Wenn die EU ihre Leute an den Strand lässt, ist es normalerweise sicher.

Ein Recht auf eine zweite Amtszeit?

Dadurch, dass es fast gleichviele Mende wie Timne gibt, gibt es eine Art Gleichgewicht. Seit dem Ende des Krieges vor zwanzig Jahren wurde die Regierungspartei immer nach zwei Wahlperioden gewechselt. Ich habe schon so interessante Kommentare gehört wie: „Ich gehe nicht wählen. Ich will nicht, dass die SLPP weiter regiert, aber sie haben ja ein Recht auf eine weitere Amtszeit.“ Es gibt einige Leute, die genauso argumentieren. Teilweise, denken sie, dass die Regierungspartei sich die Macht im Notfall mit Gewalt holen und erhalten wird, da die Politiker davon ausgehen, sie hätten ein Anrecht auf die zweite Legislaturperiode. Teilweise sagen Leute, die Situation dieses Jahr sei ganz anders als sonst und der Ausgang der Wahl echt offen. Es gibt Menschen wie meine Kollegin, die sich mit Lebensmitteln eindecken will, weil sie nicht weiß, ob sie vor die Türe gehen wird und es gibt Menschen, die sagen, es wird alles ruhig bleiben und es gibt viel zu viel Aufregung. Niemand will zurück ins Chaos, auch nicht die Leute, die an der Macht sind und die können es steuern.

Risk Assessment im CPS Meeting

Wie zentral das Thema ist, wurde mir auch wieder klar, als wir letzte Woche ein extra CPS-Meeting mit Risk Assessment hatten.

(Zur Erinnerung: CPS steht für Civil Peace Service – Ziviler Friedensdienst. Über dieses Proramm bin ich hier. Es gibt hier ein Netzwerk von 11 lokalen Organisationen im CPS Netzwerk von Brot für die Welt, in dem wir uns vierteljährlich treffen.)

Wir haben uns einen Vormittag Zeit genommen, um zu analysieren, welche Risiken und Gefahren wir als Organisationen in den nächsten Wochen auf uns zukommen sehen, wie wahrscheinlich deren Eintreten ist und wie groß die Auswirkungen auf unsere Arbeit und unser Wohlbefinden wären. Es war sehr spannend für mich, da noch einmal einige Punkte genannt wurden, die mir schon bewusst waren, aber eben auch Punkte, die immer wieder diskutiert werden, ohne, dass wir wirklich etwas anderes tun können, außer ruhig bleiben, neutral bleiben, Nachrichten überprüfen und keine Fake news weiterleiten. Spannend war für mich, dass zwar die Wahrscheinlichkeit, dass es wirklich Wahlbetrug geben wird, als mittel eingestuft wird, aber gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass ein Großteil der Bevölkerung denkt, es gibt Wahlbetrug. Diese Annahme ist damit ausschlaggebender als der Wahlbetrug selbst. Wenn „alle“ davon ausgehen, die Wahlergebnisse sind gefälscht, dann werden sie diese nicht anerkennen. Egal ob sie gefälscht sind oder nicht. Das Hauptproblem ist in diesem Fall das Misstrauen in die Institutionen. Niemand traut niemanden. Der Direktor der einen Partnerorganisation ist auch öfter in Deutschland. Er war bei mir in der einen Diskussionsrunde. Als er erklärte, in Deutschland gehen alle wählen, dann schaut man sich die Hochrechnungen an und das Ergebnis wird anerkannt. Die Mehrheit der Menschen weiß, dass es keinen Wahlbetrug gibt. Das ist ein riesengroßer Unterschied.

Teilweise verstärken auch die Medien die Situation. So gab es vor ein paar Wochen eine Schlagzeile „Survey reveals that SLPP will win the elections“. Das heißt so viel wie, eine Studie hat herausgefunden, dass die SLPP wieder gewinnen wird. Ganz anderes Wording als bei uns. Wo es heißen würde, laut aktueller Hochrechnungen…, wenn nächsten Sonntag Bundestagwahl wäre…. Was also, wenn SLPP nun verliert? Beide Lager streuen schon Gerüchte, dass die jeweils andere Seite versucht die Wahl zu fälschen. Das hört sich manchmal schon nach guter Vorbereitung an. Dann kann man sagen, Ha! Haben wir ja schon seit Wochen gesagt und nun ist es eingetroffen.

Auf alles vorbereitet sein und hoffen, dass nichts passiert, scheint mir die Divise.

Auf jeden Fall ist alles politisch gerade. Egal ob es die Snack-Frau am Bureh Strand ist, die eine politische Diskussion startet, die Kollegen und Kolleginnen in der Arbeit, der Megafon-Mann auf der Straße oder das Mitgliedertreffen meiner Organisation. Immer und überall wird auf einmal politisch Stellung bezogen, Neutralität gibt es kaum und die Gemüter sind erhitzt. Das ist auch einer der Gründe, weshalb „Rallies“ verboten wurden. Normalerweise starten ein paar Wochen vor den Wahlen die sogenannten rallies. Das ist eine Mischung aus Kundgebung und Marsch. Viele Menschen gehen dafür auf die Straße, um ihre Partei zu unterstützen, der Verkehr wird komplett lahmgelegt und es kann zu Ausschreitungen kommen. Teilweise werden auch Menschen extra angeheuert, um bei den rallies mitzulaufen und Stimmung für den jeweiligen Kandidaten machen. Die Meinungen gehen auch hier auseinander, ob es gut ist, dass die rallies verboten sind oder nicht. Ich persönlich begrüße die Entscheidung. Es kann nämlich etwas anstrengend und nervig sein, wenn man in so einer Rally landet und für lange Zeit feststeckt. Das ist mir jetzt schon zweimal passiert. Andererseits ist es für viele Leute erstens eine schöne Abwechslung, singend und tanzend durch die Straßen zu ziehen, dann bekommen sie vielleicht auch noch ein neues T-Shirt, etwas zu essen und vielleicht sogar ein bisschen Geld.

Ich finde es ein bisschen schade, dass ich während der Wahlen nicht hier bleiben kann, um mitzuerleben, wie die Stimmung dann wirklich ist. Aber ich hoffe, ich bekomme auch aus der Ferne dann genug mit.

Jetzt habt ihr einen Ausflug in die Stimmung hier bekommen. Für mich als Außenstehende ist es dennoch schwer, alles nachzuvollziehen und darzustellen. Sehr viele Informationen laufen über Kanäle, die ich nicht nutze. Und wie gesagt, die größte Herausforderung ist, dass Informationen nicht verlässlich sind und vieles auf hören-sagen basiert. Für mich scheint es wirklich spannend, zu sehen, wie die Wahlen am Ende ausgehen. Let´s hope and pray for peaceful elections!

Nachtrag: ECOMOG back in the country

Gerade habe ich den Beitrag veröffentlicht, schon erreicht mich die Nachricht, dass wieder ECOMOG (Economic Community Monitoring Group) Truppen ins Land kommen, um die Wahlen zu beobachten und den Frieden zu wahren. Die ECOMOG Truppen haben auch den Bürgerkrieg beendet. Sie wurden von ECOWAS-Staaten zusammengestellt. Zusätzlich zu internationalen Wahlbeobachtern bekommen wir also anscheinend militärische Beobachter ins Land.

ECOWAS ist die westafrikanischen Wirtschaftgemeinschaft, quasi so etwas wie die EU Westafrikas, ebenfalls entstanden aus einer Zollunion. Es gibt unter anderem einen Nichtangriffspakt und oben erwähnte ECOMOG, die eigentlich zur gemeinsamen Verteidigung dient. Ziel ist eine weitere politische Zusammenarbeit und seit dem ersten militärischen Einsatz der ECOMOG in Liberia und anschließend in Sierra Leone wurden die Zuständigkeiten noch erweitert.

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