So lange war es noch nie still auf meinem Blog. Eigentlich habe ich fast zeitgleich mit dem letzten Post diesen hier geplant, aber irgendwie kamen die Worte nicht aus mir heraus und ich wusste nicht, was und wie ich schreiben soll. Für die meisten von euch wird es keine neue Nachricht sein, aber dennoch habe ich das Gefühl, dass ich es auch hier schreiben muss.
Vor ungefähr fünf Monaten bin ich von Sierra Leone nach Deutschland geflogen in Vorfreude auf ein Wiedersehen mit vielen lieben Menschen, in Vorfreude auf ein paar Wochen Entspannung und Recreation, in Vorfreude darauf, meine Batterien aufzufüllen, um dann Anfang August wieder voller Energie zurück nach Salone zu fliegen. Ich hatte mich nicht einmal von allen Leuten verabschiedet, weil ich vor Abflug nochmal krank war und mit der Arbeit noch viel unterwegs. Es wäre ja nur für ein paar Wochen…
Aber wie das Leben manchmal so spielt, kam dann alles anders und auf einmal stand alles Kopf. Dass ein Kind große Veränderungen mit sich bringt, ist bekannt, aber normalerweise hat man ein paar Monate Zeit, sich darauf einzustellen und meist kommen die großen Veränderungen erst mit der Geburt. Nicht so bei uns. Nachdem ich gemerkt hatte, dass ich schwanger bin, ging alles viel zu schnell und viel zu viel änderte sich auf einen Schlag und noch dazu vollkommen außerhalb meiner Kontrolle. (Für die, die es noch nicht wussten: Yes, ich bin schwanger. Mittlerweile im sechsten Monat.) Auf einmal hieß es, kein Rückflug nach Sweet Salone, kein Abschied von lieben Menschen in Freetown und anderen Orten, keine Zeit, um mich emotional auf all das vorzubereiten. Von jetzt auf gleich haben andere beschlossen, dass mein Leben nun nicht mehr in Westafrika, sondern wieder in Deutschland ist.
Die ersten Wochen waren emotional (und organisatorisch) unglaublich anstrengend und herausfordernd. So viel Ungewisses – teilweise bis heute – so viele Abschiede, die ich nicht richtig leben konnte, so viele Fragen in mir, ob ich das will und wie und überhaupt. Einige Stürme in mir haben sich mittlerweile beruhigt, andere brechen ab und an wieder hervor. Ich bin unendlich dankbar, für alle, die mich und die unerwartete Nachricht mit Freude und offenen Armen aufgenommen haben.
Wie nimmt man Abschied von einem Leben, wenn man weit weg ist? Von Freundinnen und Freunden, die eigentlich Teil meines Alltags waren und die ich auf einmal vielleicht nie wieder sehen werde? Von einem Land, das über drei Jahre meine Heimat war?
Beim Kaffee am Morgen blicke ich jetzt nicht mehr aufs Meer oder in meine neighbour hood, sondern über die Dächer der Nachbarhäuser und auf die mittlerweile herbstlich gefärbten Bäume des nahen Waldes. Ich lausche nicht mehr dem Huppen der Okadas, den Werbeslogans von der Straße und den Generatoren, sondern es herrscht Stille und das Rauschen der nahen Autobahn. Die bunte Welt um mich herum ist eingetauscht gegen das Grau-in-Grau des deutschen Novembers. Ich beobachte keine Bee-eater, Western Grey Plantin Eater und Village weaver mehr. Es sind Meisen, Eichelhäher und Amseln, denen ich nun bei ihren Flügen zuschaue.
Ich vermisse meine Freundinnen und Freunde in Freetown, ich vermisse unsere gemeinsamen Abende, die Wochenenden am Strand, die internationale Umgebung, die spannenden Lebenswege und das immer wieder Unerwartete. Ich vermisse meine Arbeit, die Kollegin, die Besuche in den Dörfern und all das, was ich Erleben durfte. Ich kann es nicht in Worte fassen. Es ist das Gefühl, in Sierra Leone zu sein, das ich vermisse. Dieses Gefühl, wenn ich ankomme und vom Flughafen auf die Fähre laufe, das Gefühl abends ein Mützig am Strand zu trinken oder bei den italians zur pasta night zu sein. Ich vermisse es, abends durch Freetown zu fahren oder über Land, durch Dörfer und durch die grüne Landschaft nach der Regenzeit. Ich vermisse den Wind im Haar, wenn ich Okada fahre und das Lächeln der Begrüßung, wenn ich alte Bekannte treffe. Ich vermisse die Menschen. Das Gefühl, dass ich in Besprechungen, Workshops und in der Arbeit mit den communities spüre. Sogar das Essen vermisse ich. So gerne hätte ich mal wieder groundnut soup, casava leaves, fried rice und rice balls. Die Geräusche, die Gerüche, die tropische Luft… All das vermisse ich. Mein Leben in Sierra Leone eben.
Vieles vermisse ich allerdings auch nicht. In welch einem Luxus und Wohlstand ich nun schon seit fünf Monaten lebe: Immer Strom! Immer Licht und fließend Wasser – kalt und warm!!! Ich kann einfach meine Wäsche in der Maschine waschen, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, ob die Wäsche wirklich in zwei Stunden fertig ist, sauber, und ich alles entspannt aufhängen kann. Mein Geschirr kann ich einfach in die Spülmaschine packen und die wäscht für mich. Wie unglaublich toll ist das denn? Wenn es warm ist, mache ich das Fenster auf und wenn es kalt wird, mache ich die Heizung an. Kein Schwitzen, kein „zu heiß“ in der Nacht. Im Supermarkt gibt es einfach alles zu kaufen, was das Herz begehrt und auch noch zu Preisen, die absolut okay sind. Und diese unglaubliche Vielfalt an Salat, Tomaten, Äpfeln, Gemüse und Obst, Essig, Öl, Käse, Wurst, Brot alles. Wow! Noch immer merke ich, dass ich beim Betreten von Supermärkten denke, Wow. Nur Salone Food finde ich nicht.
Und auch easy: gibt es etwas nicht im Laden, dann gibt es es im Internet. Und wird einfach direkt nach Hause geliefert. Es funktioniert einfach alles, wie geschmiert. Ja, die Deutsche Bahn nicht immer, aber immerhin gibt es eine Bahn und ich kann mit dem Zug durch Deutschland fahren und Leute besuchen.
Ich genieße, dass alles funktioniert. Ich genieße Spaziergänge im Herbstwald, Stadtbummel mit Kaffeepause und natürlich vor allem die Zeit, die ich mit Familie, Freundinnen und Freunden verbringen kann. Alles, was drei Jahre lang zu kurz kam, kann ich nun nachholen. Welch ein Geschenk. Es macht mich unglaublich glücklich, dass ich drei Jahre weg war und dennoch immer das Gefühl habe, es war nur eine kurze Zeit, wenn ich mich mit lieben Menschen treffe.
Und ich muss zugeben, ich genieße es auch, eine von vielen zu sein. Ich genieße es, nicht konstant mit meinen Privilegien als Weiße, als Europäerin, als Reiche konfrontiert zu sein. Und zugleich bin ich eben auch nicht ständig mit dem unglaublich schweren Schicksal so vieler anderer Menschen konfrontiert. Ich muss nicht mehr direkt entscheiden, wem ich Geld gebe für ein Abendessen oder einen Arztbesuch. Ich muss die viel zu jungen Mädchen abends auf der Straße nicht mehr sehen und mir ausmalen, wie sie wohl die Nacht verbringen werden, muss mir nicht mehr ständig Gedanken machen, wie wohl die meisten Menschen, die ich jeden Tag sehe, ihr Leben meistern, Schulgebühren für die Kinder zahlen, mehr als eine Mahlzeit am Tag bereiten und sich in ihrem Schicksal ergeben und dennoch kämpfen. Die Armut und das Elend sind wieder weiter weg – ich kann die Augen davor verschließen, wenn ich möchte. Aber dennoch sind diese Bilder in mir. Und ich bin mir meiner Privilegien bewusst. Auch deshalb muss ich mich manchmal bei Gesprächen zusammenreißen und den Mund halten. Manchmal muss ich mir sagen: „Ja, das hier sind auch echte Probleme. Sie kennen es ja nicht anders… Hätten sie gesehen, was ich gesehen habe, wären sie vielleicht dankbar und nicht frustiert und gestresst.“ Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Ich bin sehr dankbar, für all die Begegnungen und Menschen, die ich in den drei Jahren in Salone getroffen habe, für alle, die ich wahrscheinlich nicht mehr sehen werde und für alle, die Teil meines Lebens geworden sind und dies auch bleiben werden.
Es hat so lange gedauert, bis ich hier geschrieben habe, da noch immer so vieles im Unklaren ist. Ich weiß noch nicht, wie es nach der Geburt weitergeht, wo mich das Leben hintreibt. Manchmal denke ich, vielleicht war es einfach Zeit, zurück nach Deutschland zu kommen und hier zu bleiben, oft habe ich aber auch das Gefühl, ich muss wieder weg und ich bin noch nicht bereit für ein Leben in Deutschland. Aber spätestens seit Juni weiß ich auch, das Vieles nicht planbar ist. Vor sechs Monaten hätte ich es noch nicht für wahrscheinlich gehalten, dass ich jetzt hier schwanger in Deutschland sitze. Deshalb bleibt wohl auch mit Blick in die Zukunft mit offenem und hoffnungsvollem Herzen auf das zu Warten, was da kommt.
Wie es mit diesem Blog weitergeht, weiß ich auch noch nicht. Bevor ich nach Sierra Leone bin, habe ich mich extra dafür entschieden, den Namen nicht an das Land zu koppeln, sondern eher an mich. Eigentlich dachte ich eher, ich kann den Blog „mitnehmen“, falls ich nach Salone in ein anderes Land weiterziehe oder danach endlich meinen Traum verwirkliche, und eine Almhütte bewirtschafte. Dass es nun so kommt, konnte ich nicht ahnen; dass es eine mummy-Blog wird, hoffe ich vermeiden zu können; mal schauen, was hier in Zukunft passiert. Es bleibt spannend.
Ich möchte allen danken, die in den letzten Jahren mit mir auf die Reise gegangen sind und sich auf meine Berichte und Sichtweisen eingelassen haben. Vielen Dank für all die Rückmeldungen, für das Dabeisein und das Begleiten. Es hat mir immer geholfen, zu wissen, dass in der Ferne ein paar Menschen sind, die an mich denken, die mit mir Miterleben und neugierig sind, auf das, was ich erlebe. Danke dafür. Und wer weiß, vielleicht ist es jetzt dann noch ein bisschen still hier, aber das Leben wird vielleicht wieder Spannendes für mich bereithalten. (Nicht das ein Kind nichts Spannendes wäre – aber ich meine abgesehen davon 😉) Wenn es soweit ist, werdet ihr es erfahren. Der Blog bleibt auf jeden online und ich bin schon gespannt, was ich im nächsten Beitrag so schreiben werde.
Bis dahin: alles Gute, verliert den Mut, die Neugierde und die Hoffnung nicht, egal was um euch herum und in der Welt geschieht.
Oh wow, was für ein wundervoller Text. Ich kann mir dein Gefühlsdilemma gut vorstellen. Verrückt, wie das Leben spielt. Zugleich freu ich mich sehr, dass wir uns jetzt wieder öfter sehen können. Alles Liebe und Gute für die nächsten Wochen 💛❤️💚