Drei Jahre Sierra Leone

Heute vor drei Jahren bin ich das erste Mal in Sierra Leone gelandet. Eben habe ich mir meinen Beitrag von vor drei Jahren angeschaut. Damals bin ich voller Neugierde und etwas Angst im Gepäck gelandet. Nun drei Jahre später ist vieles Alltag geworden, was damals noch unbekannt war und Ängste sind Zuversicht gewichen.

Wenn ich nun in Lungi am Flughafen lande, komme ich nach Hause. Ich freue mich, auf die ersten Krio-Worte mit dem Grenzpersonal, bin entweder genervt oder erfreut über das leichte Chaos – abhängig von meiner Laune – genieße die Überfahrt nach Freetown und blicke voller Vorfreude auf die näherkommenden Lichter der Stadt. Wenn ich in meine Wohnung komme, schaue ich immer zuerst nach meinen Pflanzen. Wenn Strom da ist, bin ich dankbar und wenn kein Strom da ist, denke ich nur „welcome back“. Komme ich am Nachmittag an, führt mich der erste Gang zum Sundowner Bier an den Strand.

Nach drei Jahren Sierra Leone nehme ich vieles gelassener, auch wenn ich vieles immer noch nicht nachvollziehen kann. Akzeptieren, was ich nicht ändern kann, wird immer mehr zum umgesetzten Lebensmotto. Schwierig ist es nach wie vor, die Balance zu finden, zwischen meinen Erwartungen an mich und mein Arbeitsumfeld und einem „mir ist alles egal“-Gefühl. Aber auch darin werde ich besser. Ruhig bleiben ist zwar in manchen Situationen nach wie vor eine mentale Herausforderung, aber ich werde immer besser darin. Meditation und Yoga helfen mir durch den Alltag, genauso wie das Meer. Wer hätte gedacht, dass ich einmal am Meer wohnen werde, wo ich mich doch eigentlich als Berg-Mensch identifiziere. Aber das Meer werde ich sehr vermissen, wenn ich es eines Tages verlassen werde. Und es hat mir besonders in den letzten Wochen, die sehr herausfordernd und schwierig waren, unglaublich geholfen, bei mir zu sein und mich zu beruhigen.

Nach drei Jahren Sierra Leone bin ich glücklich, dass ich das Gefühl habe, meine Herzensmenschen in Deutschland sind immer noch alle da. Und ich bin dankbar, dass hier sogar neue hinzugekommen sind. Wenn ich nach Deutschland komme, habe ich das Gefühl, ich wäre nie weg gewesen. Alle nehmen mich auf, als hätten wir uns erst in der Vorwoche gesehen. Gut, die Kinder wachsen unglaublich schnell und die Erwachsenen bekommen immer mehr graue Haare, aber sonst, alles beim Alten 😉

In den letzten drei Jahren wurde ich mit so viel Ungerechtigkeit, Planungsunsicherheit, Armut, Verzweiflung und Willkür konfrontiert, wie noch in meinem Leben. Und auch nach drei Jahren weiß ich noch immer nicht, wie ich auf diese Lebensrealitäten reagieren soll. Meine Privilegien als weiße Frau, geboren in Mitteleuropa, sind mir bewusster denn je. Die Lebenssituation der Menschen in Sierra Leone hat sich verschärft in den letzten drei Jahren. Wenn man mit dem monatlichen Mindestlohn nicht mal mehr einen großen Sack Reis bezahlen kann, wo soll das hinführen? Und dann die Kush-Krise im Land. Gerade junge Männer sind anfällig für die Droge. Ich kann es sehen. Und ich weiß nicht, wie Menschen ihr Essen bezahlen. „Unser täglich Brot“ hat hier eine vollkommen andere Bedeutung. Ich kann sehen, wie Mangroven verschwinden, wie die bewaldeten Hügel nur noch Hügel sind und karg in den Himmel ragen. Wie die Strände weggewaschen werden durch zu viel sand-mining und die regelmäßigen beach-clean-ups den Kern des immensen Müllproblems und der Plastikverschmutzung nicht einmal tangieren.

Die letzten Wochen hier waren sehr anstrengend. Und es gab den ein oder anderen Morgen, an dem ich in meinem Bett lag und mich fragte, wieso habe ich diesen Vertrag verlängert??? Wieso fliege ich nicht einfach am 7. Mai nach Hause und bin im schönen, ruhigen, gut organisierten, sauberen und kühlem Deutschland? Wie sehr ich es gerade vermisse.

Im April hatten wir drei Wochen lang gar keinen Strom, da die Regierung das türkische Stromschiff mal wieder nicht bezahlt hatte, seit zwei Wochen gibt es ab und an Strom. Aber absolut unvorhersehbar, unplanbar und eher 1-2 Stunden am Tag. Kein Strom heißt ja immer auch Generatorenlärm. Und genau dieser Generatorenlärm ist es, der mich mürbe macht und mich zweifeln lässt, ob ich wirklich länger hier sein möchte/kann. Dann diese Luftfeuchtigkeit und der ewige Schweiß. Die Unorganisiertheit in der Arbeit, die mich immer wieder zweifeln lässt, was habe ich eigentlich die letzten drei Jahre gemacht? Leben mit dem Frust ist Teil meines Alltags. Diesen Frust zu minimieren war eine Hauptaufgabe in den letzten Jahren. Ich schaffe es immer besser, den Frust nicht aufzukommen zu lassen.

In den letzten drei Jahren habe ich endlich begriffen, was ich in der Theorie schon wusste. Ich kann niemandem etwas beibringen, der oder die kein Interesse oder keine Kapazitäten hat. Die für mich einfachsten und logischsten Gedankengänge finden bei den Menschen in meiner Umgebung nicht statt. Mir ist bewusster denn je, dass wir durch spielerisches Lernen, Wissen, die Sendung mit der Maus und ganz viel Input, vielen Menschen auf diesem Globus so viel voraushaben, dass diese nicht aufholen können. Nicht solange der globale Norden vorgibt, welche Skills wichtig sind, welche Ausbildungsformen Jobs nach sich ziehen, welches Wissen Gewicht hat.

Ich merke immer wieder, ich lebe hier in einer traumatisierten Gesellschaft, in der Gewalterfahrungen und erlebte Ungerechtigkeit aus der Vergangenheit nie aufgearbeitet und thematisiert wurden und leider meist auch nicht nur der Vergangenheit angehören, sondern für die meisten Menschen zu ihrem Alltag gehören. Das fängt an, mit der Unsicherheit, ob es Strom gibt oder nicht – für die Haushalte, die ans Stromnetz angeschlossen sind. Und hört nicht auf mit der Unsicherheit, ob mein Haus, für das ich offizielle Dokumente habe, nicht doch eines Tages ohne Kompensation eingerissen wird. Körperliche Gewalt – egal ob in der Schule, zu Hause oder in Form von Selbstjustiz in der community gehören zum Alltag. Laute Auseinandersetzungen sind Teil der Straßengeräusche.

Die Hoffnung stirbt zuletzt heißt es, aber selbst ich habe manchmal das Gefühl, ich habe die Hoffnung aufgegeben. Und wenn ich keine Hoffnung mehr habe, ist es eigentlich Zeit zu gehen. Wenn ich mich umschaue, ist es manchmal schwierig, die Hoffnung am Leben zu halten. Ich sehe junge und motivierte Menschen, die studieren wollen und ein gutes Leben leben wollen, doch zugleich wissen sie, dass die Ausbildung, die sie im Land bekommen, nicht gut ist und sie ohne Vitamin B keine Arbeit finden werden. Ich sehe unglaublich beeindruckende Natur und zugleich überall Abholzung, Plastikflut und Umweltzerstörung. Ich sehe communities, die versuchen ihre Rechte zu verstehen und Regierung und internationale Konzerne, die mit Geld alles zunichtemachen und sich nehmen, was sie wollen. Ich höre meine Kolleginnen und Kollegen, die unter extremer finanzieller Belastung leiden und gesellschaftlichem Druck. Die irgendwie weitermachen, weil man ja irgendwie weitermachen muss, aber die gar keine Kapazitäten haben für planen, vorausschauen und vor allem nicht full-time für die Arbeit. Andere Herausforderungen sind einfach dringlicher.

Wieso also bleibe ich – trotz der Aussichtslosigkeit, trotz der Hitze, des Drecks und der Zweifel an der Sinnhaftigkeit meines Hierseins? Irgendwie hatte ich vor ein paar Wochen das Gefühl, ich bin hier noch nicht fertig. Und es gibt auch immer wieder Hoffnungsschimmer am Horizont. Ich bin nicht hierhergekommen, um den Wald zu retten (steht nicht in meinem Vertrag 😉). Ich bin hier, um meine Organisation in ihrer Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit und ihrer Advocacyarbeit zu unterstützten. Ja, es ist immer noch sehr viel Luft nach oben und ja, ich bin seit fast drei Jahren in der Dauerschleife, aber ich kann doch auf einige Erfolge zurückblicken, die mich stolz und glücklich machen. Ich sehe Veränderung und Verbesserung, auch wenn sie unendlich viel länger dauert als erwartet. Wenn ich mir klar mache, dass ich in einem der ärmsten Länder der Welt bin, rückt mich das immer wieder etwas zurecht. Wie kann ich Vergleiche anstellen zwischen Deutschland und Sierra Leone mit diesem vollständig unterschiedlichen historischen Erbe? Seitdem ich hier bin, erlebe ich immer wieder, welche extremen negativen Folgen Sklavenhandel, Kolonialzeit, neokoloniales Denken in der Entwicklungspolitik und protektionistische Wirtschaftsabkommen bis heute auf Länder wie Sierra Leone haben.
Und dann bin ich hier, als Teil dieser globalen Strukturen und muss mich konstant selbst hinterfragen, verstärke ich Abhängigkeiten und Ungleichgewichte und belüge ich mich selbst, wenn ich mir sage, ich mache das gut und bewirke nachhaltig Sinnvolles für Mensch und Natur?

Immer sieht man hier beide Seiten der Medaille zugleich, die Hoffnungslosigkeit und die Energie der Jugend, die Traumstrände und die Plastikflut, das Lächeln der Menschen und ihre extreme Verletzlichkeit, meine Tätigkeit in den globalen Ungleichgewichtsstrukturen und all das Positive, das ich bewirke. Sierra Leone strengt mich oft an. Aber es lehrt mich auch unendlich viel und öffnet meinen Blick weit über meinen Tellerrand hinaus.

Und dann gibt es diese unzähligen Begegnungen mit tollen Menschen. Menschen, die Ideen und Visionen haben. Menschen, die sich all den Schwierigkeiten zum Trotz behaupten und ihren Traum leben wollen. Es gibt junge Filmschaffende, die kreativ und authentisch die Lebensrealität der Jugend abbilden und gesellschaftliche Schieflagen anprangeren, es gibt Schulkinder, die in ihren Nachbarschaften über Müll und Umweltschutz aufklären, Lehrkräfte, die obwohl sie nicht bezahlt werden, ihrer Berufung nachgehen, weil sie wissen, dass Bildung das wertvollste ist, was sie den nächsten Generationen mitgeben können. Es gibt Mütter, die selbst nie Lesen und Schreiben gelernt haben, aber alles dafür tun, dass ihre Kinder in die Schule gehen können, egal wie viel Kraft, Energie, Opfer es bedeutet. Es gibt wunderschöne entspannte Sonntagnachmittage im Freundeskreis am weißen Sandstrand oder inmitten der Mangroven. Es gibt Auszeiten mit nichts als dem Rauschen der Wellen oder Geräusche der Vögel im Ohr. Es gibt ausgelassene, durchtanzte Nächte, witzige Runden beim Abendessen und bereichernde Gespräche. Ich genieße die Poetry-Slams und open-mic-Abende, bei denen junge Menschen ihre Gefühle, Zweifel, Hoffnungen kraftvoll und manchmal zart in Worten ausdrücken. Ich freue mich jetzt schon auf meine nächsten zwei Reisen up-country in die Dörfer, die Begegnungen mit den Menschen dort, die Energie meines Teams bei der Arbeit und die wunderbare Natur.

Hier ist so viel Energie und so viel Wille zum Leben und zugleich so viele Hindernisse auf dem Weg der einzelnen und der Gesellschaft.

Einerseits ist es leicht, die Hoffnung hier zu verlieren, denn Hoffnung zu haben, kann sehr kraftaufwendig sein. Zugleich ist Hoffnung, das einzige was vielen bleibt. Die Hoffnung, dass morgen besser ist als heute.

Wenn ich mich hier mit Künstlerinnen unterhalte und mir die Kinder in meinem Umfeld hier anschaue, dann habe ich immensen Respekt, vor dem was sie schaffen. Kinder hier haben keine Buntstifte, kein weißes Papier auf dem sie kritzeln, keine lustigen Malbücher, keinen Kunstunterricht in der Schule. Wer in dieser Umgebung schaffende Künstlerin wird, hat wahre Leidenschaft, einen starken Willen und Durchhaltevermögen. Die Menschen hier, sind wie die Pflanzen in der Wohnung meines einen Freundes: sie wollen leben und sie geben nicht auf. Der kleinste Tropfen Wasser genügt ihnen, um den Lebenswillen zu erhalten und genug Energie aufzubringen, zum Weitermachen. Aber es reicht nie aus, um zur vollen Blüte und zur vollen Größe heranzuwachsen, die möglich wäre, wären die Umstände andere.

Eigentlich dachte ich, ich gebe heute einen kleinen Rückblick über die letzten drei Jahre. Doch nun hat es sich ganz anders entwickelt und auch für mich überraschend ernst im Ton. Die letzten Jahre waren geprägt von vielen Aufs und Abs, von Erfolgen und Rückschlägen, von unglaublich vielen Glücksmomenten und viel Frust. Ganz offensichtlich das ganz normale Leben eben.

In drei Jahren hat sich viel verändert. In Sierra Leone, in Deutschland, in mir. Wie sehr ich mich verändert habe, könnt ihr wahrscheinlich besser sagen. Ich merke, ich bin gereift, ich kenne mich selbst besser, ich bin stärker geworden und kann mehr Schwäche zulassen, ich kenne meine Grenzen besser und kümmere mich besser um mich, ich bin mir meiner selbst und meiner Umwelt bewusster. Ob das alles mit dem Alter kommt oder mit dem Ausland – wer weiß das schon…

Wie sich alles weiterentwickeln wird, in der Zukunft, das bleibt das Spannende. Ich gehe voller Neugierde, aber um einiges Wissen reicher in meine zweite Vertragslaufzeit. Einige Fehler, die ich am Anfang hier begangen habe, wiederhole ich nicht mehr. Viel des Frustes und des Ärgers lasse ich zurück und starte mit positivem Blick und mehr innerer Gelassenheit in die Zukunft.

Ich freue mich sehr, über alle, die mich in den ersten drei Jahren bei meinen Entdeckungen, in meinem Alltag, mit meinen Herausforderungen, Freuden und unglaublichen Erlebnissen begleitet haben und freue mich auf das, was kommen mag. Denn nach wie vor steht mein Motto, mit dem ich ausgereist bin:

Mögen deine Entscheidungen deine Hoffnungen reflektieren, nicht deine Ängste 😊

In diesem Sinne – voller Hoffnung auf in die Zukunft!

1 Kommentar

  1. Lauerin

    Wow, liebe Kathrin. Das ist ein ganz wundervoller, ehrlicher Essay geworden. Du beeindruckst mich!

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