Am 18. Januar 2002 erklärte Präsident Kabbah den seit über zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg in Sierra Leone für beendet. Letzte Woche gab es zu diesem Anlass ein Meeting mit anschließender Pressekonferenz der CPS – Netzwerkpartner von Brot für die Welt. Zur Erinnerung: CPS steht für Civil Peace Service, auf Deutsch Ziviler Friedensdienst (ZFD). Wir stellten uns den Fragen, was wir in den letzten 20 Jahren als Organisationen dazu beigetragen haben, den Frieden zu bewahren, wo wir heute stehen und wie wir auch in Zukunft den Frieden sichern können.
11 Jahre Krieg – Gibt es da eine Unterscheidung zwischen „Gut“ und „Böse“?
Der Bürgerkrieg in Sierra Leone dauerte von März 1991 bis Januar 2002. Er gilt als einer der brutalsten auf dem afrikanischen Kontinent und vielleicht auch weltweit. Genaue Opferzahlen sind nicht bekannt. Schätzungen gehen von 50.000 bis 200.000 Todesopfern aus. Doch die Todesopfer allein machen diesen Bürgerkrieg nicht zu einem der brutalsten in der neueren Geschichte. Während des Krieges wurden unzählige Menschen verstümmelt, vergewaltigt und psychisch zerstört. Kinder wurden aus ihren Dörfern entführt, unter Drogen gesetzt und zu furchtbaren Taten gezwungen, um sie zu brechen und als Kindersoldaten einzusetzen.
In vielen anderen Kriegen weltweit, die über mehrere Jahre andauern, in denen es nicht „nur“ um politische Macht, sondern vor allem um wirtschaftliche Interessen geht, gibt es keine klaren Linien, keine zwei Lager, die sich gegenüberstehen. Diese Kriege sind komplex und nicht immer ist klar, wer „die Guten“ und wer „die Bösen“ sind. Oder gibt es überhaupt „die Guten“ im Krieg? Im Falle Sierra Leones ist es nicht anders gewesen. Gräueltaten wurden nicht nur von den Rebellen begangen. Auch Soldaten der Regierungsarmee haben geplündert, vergewaltigt und die Bevölkerung in Angst versetzt. Und natürlich sind auch internationale Unternehmen, Regierungen und Mächte involviert, wenn es um Diamanten, Gold und andere Bodenschätze geht. Man nennt es auch den Ressourcenfluch. Für die Bevölkerung von Ländern, die reich an Bodenschätzen sind und schwache Regierungen haben, sind die Bodenschätze oftmals mehr Fluch als Segen. Man sieht das in der Demokratischen Republik Kongo, im Norden Mosambiks und auch in Sierra Leone. Ich möchte heute aber nicht über den Krieg schreiben, sondern über den Frieden.
CPS Netzwerktreffen zu 20 Jahre Frieden
Anlässlich des 20-jährigen Jahrestages zum Ende des Krieges haben sich letzte Woche die CPS-Netzwerkpartner von Brot für die Welt in Sierra Leone getroffen, um gemeinsam zu reflektieren, was sie in den letzten 20 Jahren getan haben, um den fragilen Frieden zu stärken, wo wir heute stehen angesichts der nahenden Wahlen im kommenden Jahr und wie wir es schaffen können, den Frieden auch in Zukunft zu wahren.
Die Organisationen im Netzwerk arbeiten in sehr unterschiedlichen Bereichen:
- CCSL (Counsil of Churches of Sierra Leone)
Als kirchliche Organisation kann CCSL oftmals in konfliktreichen Situationen vermitteln, da religiöse Führer in Sierra Leone hohes Ansehen genießen und Religion für die Menschen hier sehr wichtig ist. CCSL kann deshalb vermittelnd zwischen Konfliktparteien auftreten und Situationen entschärfen. - Culture Radio
Culture Radio bringt Informationen, Nachrichten und Wissen zu Menschen im ganzen Land. Radio ist insbesondere in den entlegenen Gebieten das Medium der Wahl. Über community radios wird den Menschen eine Stimme gegeben, ihre Anliegen werden publik gemacht und sie werden über wichtige Entwicklungen im Land informiert. Falschinformationen kann entgegengewirkt werden. - MAGE (Men´s Association for Gender Equality)
MAGE setzt sich für Geschlechtergerechtigkeit ein. Der Ansatz ist, dass es auch Männer braucht, um diesen gesellschaftlichen Wandel voranzubringen. - MADAME (Mankind Activities Development Accreditation Movement)
MADAME setzt vor allem auf berufliche Ausbildung junger Menschen. Sie bieten verschiedene Ausbildungen für junge Männer und Frauen an, um ihnen einen guten Start im Berufsleben zu ermöglichen. Wer selbstständig ist und für das eigene Leben aufkommen kann, ist weniger anfällig für Falschmeldungen und Instrumentalisierung. - SiLNoRF (Sierra Leone Network on the Right for Food)
SiLNoRF setzt sich, wie der Name schon sagt, für das Recht auf Essen ein. Es ist ein Netzwerk aus mehreren Organisationen, die auch Advocacy zu den Themen Nahrungssicherheit und sauberes Trinkwasser machen. Auch Landrechte gehören zu ihren Fokusthemen. - Freetong Players International
Die Freetong Players informieren und vermitteln Wissen und Botschaften durch Theaterstücke. - YMCA (Young Men´s Christian Association)
YMCA hat mehrere Jugendgruppen im ganzen Land, die ähnlich wie kirchliche Jugendgruppen in anderen Ländern funktionieren und versuchen Misstände in der Gesellschaft zu verringern. - und natürlich CSSL (Conservation Society of Sierra Leone)
Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen. Wir treffen uns einmal im Quartal, um über aktuelle Projekte zu berichten und uns auszutauschen. Beim Treffen letzte Woche ging es wie gesagt, um den Beitrag zum Frieden nach dem Bürgerkrieg. Es geht viel um Bildungsangebote, berufliche Ausbildung, Vermittlung zwischen Konfliktparteien und den Versuch, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu verringern.
Alle waren sich einig, dass einer der Hauptgründe für den Krieg damals – oder besser gesagt, einer der Gründe, weshalb der Krieg möglich war – die Perspektivlosigkeit der Menschen, insbesondere der jungen Generation, war. Hinzu kamen die große Ungleichheit im Land, die Korruption und das nicht vorhandene Vertrauen in die politische Elite, diese Missstände zu ändern. Eine Jugend, die keine Perspektive hat, die keine Ausbildung hat und sich in Drogen und Parallelwelten flüchtet, ist sehr anfällig für Radikalisierung und dafür für politische Ziele missbraucht zu werden.
Documentary on CPS 20 years after the war
Das CPS-Netzwerk hat eine 30minütige Video-Dokumentation erstellt, die die Netzwerkpartner und Betroffene zu Wort kommen lässt und auch auf die aktuelle Situation blickt. Die Netzwerkpartner berichten, was sie in den letzten 20 Jahren getan haben, um den Frieden zu stabilisieren. Der Film zeigt aber auch einige Szenen aus dem Bürgerkrieg, so dass unterschiedliche Aspekte des Krieges und des Friedens thematisiert werden.
Die Dokumentation ist leider noch nicht final freigegeben und da nicht absehbar ist, wann das der Fall sein wird, veröffentliche ich den Blogbeitrag schon einmal ohne den Film. Der Film dann nachgereicht 😉
Persönliche Erinnerungen an den Krieg – von Drogen, Mord und Kidnapping
Nachdem wir den Film angeschaut haben, gab es eine Diskussionsrunde. Offensichtlich hat der Film bei meinen Kolleginnen und Kollegen, die den Krieg miterlebt haben, viele Erinnerungen wieder hervorgeholt. Einige haben sehr persönliche Erfahrungen geteilt.
So berichtete ein Kollege, dass er während des Krieges die Schule verlassen musste und durch großes Glück die Möglichkeit hatte, anschließend seine Schule fertig zu machen und sogar zu studieren. Aber der Krieg hat ihm viel genommen. Er berichtete, dass einer seiner Mitschüler Teil der Rebellen wurde und dafür verantwortlich sei, dass seine Mutter nicht mehr da ist.
Ein weiterer Kollege erzählte, dass er gezwungen wurde (ich schätze mal, von den Rebellen), von Kenema nach Liberia zu laufen, was vier Tage dauerte. Zwischen Kenema und Liberia ist Busch und Regenwald. Dort gibt es keine Wege. Sein Bruder, von der gleichen Mutter und vom gleichen Vater (das wird hier immer extra betont, da es Mehrehen gibt), war ein Senior Rebell Leader. Deshalb wurde auch mein Kollege verfolgt und gejagt.
Ein Kollege berichtete, dass Drogen eines der Hauptprobleme waren, damals. Und es immer noch oder wieder sind. Die Jugend ist anfällig für Drogen, sie sind sehr billig hier und sie bringen die Jugendlichen in eine Abhängigkeit. Einer seiner Freunde wurde von Rebellen entführt. Er hat ihn in einem Ausschnitt im Film erkannt.
Am 25.12.1994 sei er von den Rebellen der RUF (Revolutionary United Front) gefangen genommen worden, erzählt ein weiterer Kollege. Er habe großes Glück gehabt. Ein paar Tage später haben sie ihn wieder freigelassen. Er betonte, wie wichtig es ist, den Krieg und die Kriegsgeschehnisse nicht zu vergessen. Reflektion, Erinnern und Gedenken sind wichtig.
Auch die CPS-Koordinatorin, Adenike, betonte anschließend, alle, die den Krieg erlebt haben, für sie ist klar: Nie wieder! Aber die junge Generation weiß nichts über den Krieg. Wenn sie jemanden sehen, dessen Bein oder dessen Hände amputiert sind, wissen sie nicht, dass dies mit dem Krieg zusammenhängt. Man müsse der jungen Generation erzählen, was während des Krieges passiert ist, damit auch sie sich für den Frieden einsetzen.
Wo stehen wir heute?
Im kommenden Jahr sind Wahlen in Sierra Leone. Wahlen sind immer eine fragile Zeit. Im Vorfeld der Wahlen versuchen Parteien, vulnerable Bevölkerungsteile, vor allem Jugendliche zu mobilisieren, der Druck auf die Bevölkerung steigt und es kann zu offenen Konflikten kommen. Je nach Ausgang der Wahl und je nachdem, wie die beteiligten Individuen und Parteien das Ergebnis akzeptieren, bleibt es ruhig oder gewaltsame Konflikte können ausbrechen. Es gibt zwei große Parteien im Land. Es ist üblich, dass eine Partei zwei Legislaturperioden bekommt und dann abgelöst wird. Es wird nun sehr spannend nächstes Jahr. Die aktuelle Regierung ist erst in ihrer ersten Legislaturperiode, aber die Menschen sind sehr unzufrieden mit ihnen. Es ist nicht klar, ob sie dennoch wiedergewählt werden, weil „normaler Weise“ alle eine zweite Periode an der Macht sind, oder die Bevölkerung sie nächstes Jahr schon abwählt.
Die große Ungerechtigkeit im Land war damals einer der Hauptgründe, weshalb sich Menschen den Rebellen angeschlossen haben. Mein Kollege vom CCSL betonte dies in seinem Statement. Diese Ungerechtigkeiten sind immer noch da. Die bisherigen Regierungen haben es nicht geschafft, dass zu ändern. Es gibt Verbesserungen und Entwicklungen, aber es gibt immer noch zu viele Ungerechtigkeiten im Bereich Gender, Zugang zu Ressourcen, Teilhabe am Reichtum des Landes, Lebensstandard, Landnutzung… Es gibt zu viel Korruption im Land. Als CPS-Netzwerk sollten wir diese Themen ansprechen und versuchen, diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen, so mein Kollege.
Dass die Wunden des Krieges noch nicht verheilt sind und Sierra Leone auch zwanzig Jahre nach Kriegsende noch unter den Folgen des Krieges leidet, zeigt diese kurze Dokumentation. Vielleicht erinnert ihr euch, dass ich im guesthouse in meinen ersten Wochen eine französische Journalistin kennengelernt habe, Jenna. Sie war unter anderem in Sierra Leone um eine kurze Dokumentation zu Sierra Leone – 20 Jahre nach dem Krieg zu drehen. Sie ist zwar selbst mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden, aber ich möchte euch den Film dennoch nicht vorenthalten. Für die Dokumentation ist sie mit einem der Rebellen in eines der Dörfer gefahren, das er damals überfallen hat.
Über den Frieden reden und schreiben
Nach der offenen Diskussionsrunde haben wir uns in thematischen Gruppen zusammengesetzt und reflektiert, was wir als CPS-Netzwerkpartner gemacht haben, um den Frieden zu stabilisieren, wo wir die Herausforderungen für die Zukunft sehen und wie wir ihnen begegnen wollen. Für uns als CSSL geht es dabei hauptsächlich um Land Use und die Nutzung der Bodenschätze und natürlichen Ressourcen des Landes. Wir versuchen zum Beispiel zwischen den Communities und Regierungsorganen zu vermitteln, den Communities alternative Einkommensmöglichkeiten aufzuzeigen und in diesem Bereich für mehr Transparenz und Gerechtigkeit zu sorgen.
Alle Teilnehmenden waren sich einig, dass der Frieden nicht sicher ist. Dass die Situation im Land nach wie vor fragil ist und wir uns weiterhin für den Frieden einsetzen müssen. Der Jugend eine Perspektive geben, den Menschen einen sicheren Lebensunterhalt ermöglich, Regierende zur Verantwortung ziehen, wenn sie ihre Versprechen nicht einhalten, sie in ihren Bemühungen unterstützen und helfen die Korruption zu bekämpfen. All dies sind Punkte, die auf unserer Liste stehen.
Ich weiß, ich habe am Anfang geschrieben, ich möchte nicht über den Krieg schreiben, sondern über den Frieden. Nachdem ich mich aber mit dem Frieden beschäftigt habe, habe ich gemerkt, ich kann nicht über den Frieden in Sierra Leone schreiben, ohne den Krieg im Hinterkopf zu haben. Ohne an die Zerbrechlichkeit des Friedens zu denken. In meinem täglichen Leben hier ist der Krieg sehr weit weg. Ich fühle mich sehr sicher. Ich denke, meinen Kollegen und Kolleginnen geht es ähnlich. Ich habe zum Beispiel nicht das Gefühl, dass es gefährlich ist, wenn ich nachts an der Straße stehe und auf ein Keke warte oder allgemein, wenn ich im Land unterwegs bin. Sicherheit ist aber offensichtlich nicht immer gleichzusetzen mit politischer und gesellschaftlicher Stabilität.
Als ich angefangen habe, zum Frieden zu recherchieren, musste ich feststellen, dass er fragiler ist, als ich dachte. Eine Studie des ACLED (Armed Conflict Location & Event Data Project), die im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, zeigt einige Warnsignale auf. Laut dieser Studie nähert sich Sierra Leone in vielen Gesellschaftsbereichen wieder der Situation zu Beginn der 1990er Jahre an. Ich habe mich ja anfangs immer gefragt, was meine Stelle mit Frieden zu tun hat. Nach und nach verstehe ich es. Bei Frieden geht es nicht nur um die Abwesenheit von Krieg – das war mir schon zuvor klar. Wir sollten an den Frieden denken, bevor es zum Krieg kommt und mit allen Anstrengungen versuchen, den Frieden zu bewahren. In unserem Fall heißt das: für mehr Gerechigkeit und Teilhabe zu sorgen. Ich hatte anfangs nur nicht so klar gesehen, was meine Stelle bei einer Umweltorganisation damit zu tun. Nun verstehe ich es. Wir versuchen, die Umwelt zu schützen und damit auch die Lebensgrundlage der Menschen. Wir versuchen, die Regierung an ihre Versprechen zu erinnern und sie dabei zu unterstützen, die Gesetze umzusetzen. Das macht die Regierung verlässlicher in den Augen der Menschen und stabilisiert damit auch die Gesellschaft im allgemeinen. Unser Einfluss mag nicht ausschlaggebend sein, aber wenn viele Organisationen das gleiche Ziel verfolgen und sich auf unterschiedlichen Gesellschaftsebenen für den Frieden einsetzen, dann können wir den Frieden hoffentlich wahren.
A Holiday for War? A Holiday for Peace!
Ein Vorschlag, der sowohl im Film kam, als auch in den anschließenden Gruppenpräsentationen war ein nationaler Feiertag, um dem Krieg zu Gedenken. An der Formulierung „A Holiday for the War“ würde ich persönlich noch etwas feilen. Ich fände es schöner, einen Holiday for Peace zu haben, um dem Frieden zu Gedenken und den Krieg dennoch nicht zu vergessen.
Und dabei ist mir aufgefallen, dass wir in Deutschland keinen Feiertag haben, für das Ende des Zweiten Weltkrieges. Vielleicht brauchen auch wir einen solchen Feiertag. Es gibt viel Gedenken an die Gräueltaten der Nazis, wie die Reichsprogromnacht, die Wannseekonferenz und weitere Daten. Aber ich glaube, es wäre auch gut einen Tag für den Frieden zu haben, an dem wir uns daran erinnern können, welch großes Glück wir haben, dass wir seit über 75 Jahren in Frieden leben.
Meetings bei gefühlten Minusgraden….
Zum Ende hin, wie immer ein paar Fotoeindrücke. Es ist immer noch gewöhnungsbedürftig für mich, dass wir bei Besprechungen in abgedunkelten Konferenzsälen sitzen, die mit der Klimaanlage auf 17° heruntergekühlt werden. Dieses Mal wurde das Mittagsessen mit goldenen Löffeln verspeist. Die Kontraste im Land sind allgegenwärtig…
(Bitte nicht erschrecken, dass mein Teller halbleer ist. Ich versuche nach wie vor möglichst wenig Fisch und Fleisch zu essen und scheitere fast täglich. Aber manchmal schaffe ich es!)






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