Nachdem ihr lange nichts von mir gehört habt, nun direkt die geballte Ladung. Ich bin heute im Homeoffice, weil landesweite Proteste gegen die erhöhten Lebenshaltungskosten angekündigt waren und nicht klar war, wie sich diese entwickeln werden. Eigentlich hatte ich gehofft, es bleibt ruhig und ich kann mich dem Thema Klimakrise widmen, aber jetzt kam eben die Meldung rein, dass es den ersten Toten gab.

Die gleiche Person, die letztes Jahr zu den Aufständen am 10. August aufgerufen hatte, hat wieder zu Unruhen aufgerufen. Seit letzter Woche gab es Diskussionen, wie es dieses Mal ausgehen würde. Im August dieses Jahres ist niemand dem Aufruf zu Protesten gefolgt und es blieb ruhig. Wir hatten gehofft, es bleibt auch heute ruhig.

Militärpräsenz in der ganzen Stadt

Seit zwei, drei Tagen ist schon vermehrt Militärpräsenz in der Stadt und den Zufahrstraßen gewesen. Als Hannah (meine Freundin aus Bo) gestern Abend gegen 22h zu mir gefahren ist, wurde sie – wie alle anderen Autos auch – von Militär kontrolliert, musste alle Taschen aufmachen und das ganze Auto wurde durchsucht. Normalerweise gibt es diese Checkpoints immer, aber gerade unsere NGO-Autos werden normalerweise durchgewunken, private Wagen werden manchmal angehalten, dann quatscht man kurz, gibt vielleicht etwas Geld und dann geht es weiter. Eine richtige Kontrolle habe ich noch nie erlebt.

Und auf einmal wird doch scharf geschossen

Vorsichtshalber sind wir heute alle im Homeoffice. Läden, Banken und Geschäfte haben zu, weil niemand einschätzen konnte, wie sich die Stimmung entwickelt. Heute Morgen kamen über die sozialen Medien in verschiedenen Gruppen Informationen, dass es eigentlich in allen Vierteln ruhig war. Wir dachten schon, alles ist gut. Aber dann gegen Mittag kamen auf einmal die ersten Berichte von Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Zivilbevölkerung. Es wurde gewarnt, dass Polizei und Militär scharfe Munition haben (keine Gummigeschosse) und sie vorbereitet sind, jede Person, die an illegalen Protesten teilnimmt zur Verantwortung zu ziehen. Der Ton vorab war schon sehr hart. Dann kamen erste Meldungen, dass in manchen Viertel Tränengas zum Einsatz kam, bei dem Auto einer Organisation wurde die Scheibe eingeschlagen, als sie durch eine Barrikade von Protestierenden fahren wollten, und eben kam die Meldung, dass es einen bestätigten Toten gibt. In der Meldung hieß es, ein Geschäftsmann, der zu seinem Laden wollte und der von einer Kugel getroffen wurde.

Eben wurde noch ein Video geschickt auf dem die Schüsse zu hören sind und man an einigen Stellen zwischen Häusern Rauch und Tränengas sieht. Ich spüre richtige Beklemmung in der Brust, wissend, dass den Menschen nicht die Möglichkeit für Proteste gegeben wird, aber auch, weil viele friedliche Proteste nicht kennen. Proteste sind hier meist gewalttätig. Vor allem nun, wo die Verzweiflung der Menschen wächst und das tägliche Überleben schwerer ist als noch vor wenigen Jahren.

Wenn eine Zwiebel 44€ kostet

Es gibt einige Gründe für die Menschen, zu demonstrieren. Viele sind wütend über die geklaute Wahl. Aber das alleine hätte wahrscheinlich niemanden auf die Straße gebracht. Die Regierung hat ziemlich viele Schulden nach der Wahl, sie konnten mal wieder das türkische Stromschiff nicht bezahlen (weshalb wir kaum Strom haben zurzeit), Lehrkräfte, Angestellte im öffentlichen Dienst u.ä. haben schon länger kein Gehalt mehr bekommen. Marktfrauen werden von den Straßen vertrieben und festgesetzt, bis sie sich freikaufen – sie verdienen allerdings das kleine aber wichtige Einkommen für ihre Familien. Gleichzeitig wurde der Benzinpreis in den letzten Wochen extrem schnell erhöht. Im Juni kostet ein Liter noch 21,5 Leones, dann nach den Wahlen wurde der Preis auf 25 erhöht und vor Kurzem auf 30. Es gibt Gerüchte, dass der Preis auf 36 oder 38 Leones pro Liter erhöht werden soll. Über die Benzinpreise will die Regierung angeblich Geld einnehmen, um Schulden zu begleichen. Durch die hohen Benzinpreise ist alles teurer und man muss jetzt noch öfter „extra“ Geld bezahlen, wenn man Standarddienstleistungen haben möchte. Es gibt auch mehr Menschen auf der Straße, die betteln.

Vor ein paar Wochen wurden die Zwiebeln auf einmal so teuer, dass es über memes gab, New Salone Diamant und ein Foto einer Gartenzwiebel. Teilweise hat eine Zwiebel dann 20 Leones gekostet. Meine Kollegin hat überlegt, wie und was sie ohne Zwiebel kochen kann. Das ist ziemlich problematisch. Ich bin keine Ernährungswissenschaftlerin, aber aus meiner Sicht ist die Ernährung hier eh oft schon sehr einseitig: Reis, Casava leave, dried fish (wenn man Glück hat). Jedes Nahrungsmittel weniger heißt auch weniger Nährstoffe, weniger Abwechslung in der Kost, höhere Gefahr von Mangelernährung.

Um es besser einschätzen zu können: der Mindestlohn liegt meines Wissens aktuell bei 600 oder 700 Leones. Nehmen wir mal den höheren Betrag von 700 NLe. Ich hoffe, ich habe richtig Prozentgerechnet, aber falls ich richtig liege, wäre es in Relation zum Mindestlohn in Deutschland (ich habe auf die Schnelle eine Zahl von 2020 gefunden 😉: 1584€) zum Beispiel so, als würde in Deutschland ein Liter Benzin rund 68€ kosten. Ein Liter Benzin ist äquivalent zu 4% des Monatseinkommens. Und eine Zwiebel 44€. Absoluter Irrsinn! Gerne kann das bitte jemand mit besseren Matheskills nachrechnen und korrigieren.

Hoffentlich nur eine Ein-Tages-Aktion

Das ist nur ein Teil der krassen Nachrichten, die es auch gibt, neben allen kleinen Erfolgen. Ich möchte euch aber nicht zu sehr mit den Defiziten hier überschwemmen heute. Die Ausschreitungen, die Verletzten und der hoffentlich einzige Tote, sind genug, denke ich. Nicht zu vergessen, dass alle, die heute ihre Verkaufsstände nicht geöffnet haben, heute auch nichts verdient haben. Ich hoffe, dass nicht zu viele Menschen heute den Tag ohne Essen verbringen müssen und hoffentlich ist es morgen wieder vorbei. Es gab Meldungen über 1-tägige, 2-tägige und 3-tägige Proteste. Let´s hope ist over today!

Ich persönlich sitze mal wieder hier in meinem Elfenbeinturm. Die Schüsse und das Tränengas kamen bisher ziemlich weit weg am anderen Ende der Stadt zum Einsatz. Angeblich gab es zwar auch vorne auf der Aberdeen Road (das ist in meinem Viertel, mein Viertel heißt Aberdeen), einen kurzen Zwischenfall, der aber anscheinend sofort von Sicherheitspersonal gestoppt wurde. Was auch immer das heißt? Hannah und Max sind seit gestern wieder bei mir zu Besuch, sie sind gerade unterwegs, Besorgungen wegen Arbeit machen. Ich bin gespannt, was sie berichten, wenn sie zurück sind.

Ein Balkon im Wandel oder Katzeklo, Katzeklo…

Wenn ich schon nicht über Klimakrise und African Climate Summit berichtet habe heute, so will ich euch wenigstens die Fotos von meinem Balkon nicht vorenthalten. Vielleicht erinnert ihr euch, dass ich Anfang des Jahres ganz freudig berichtet habe, nun endlich meinen kleinen Garten am Hinterausgang zu starten. Ich habe mir eine neue Pflanzbox besorgt, neue Erde beschafft und Salat, Rucola und Karotten angepflanzt. Ganz glücklich war ich, als nach Kurzem schon die ersten zarten Pflänzchen aus der Erde kamen. Leider war die Freude nur von kurzer Dauer. Auf einmal hat irgendjemand immer Erde über meine Pflänzchen gehäuft. Ich war wirklich irritiert und verwundert. Wer würde so etwas machen? Bis ich die Nachbarskatze ab und an sah. Da ging mir ein Licht auf. Ich habe ihr ein Premium Katzenklo mit 1A view hingestellt. Also hieß es, das ganze wieder Retour und nun steht der Pflanzkasten wieder am Küchenbalkon. Die Katze musste sich leider eine neue Toilette suchen. Anfang Mai habe ich die Kiste wieder bepflanzt – also kurz vor der Regenzeit, und nun seht ihr, was die Regenzeit mit Lemongras macht. Sie verwandelt meinen Balkon jedes Jahr in einen kleinen Dschungel 😊

Eben, als ich schon veröffentlich hatte, kam diese Nachricht über eine meine Gruppen: „Life bullets, tear gas, 2 men confirmed dead by Gun shots at pwd 5 in Moyiba – saw this reported“ – Auch wenn ich euch keine negative Stimmung bescheren möchte, leider geht der Tag für uns hier traurig und wahrscheinlich mit einem weiteren Trauma zu Ende.

Nachtrag, 15.9.2023:

Kleiner Nachtrag, da einige nachfragen, wie die Situation jetzt ist. Seit Dienstag ist alles oberflächlich wieder ruhig, Läden und Büros sind wieder geöffnet und alles scheint seinen normalen Gang zu gehen.