Fragiler Frieden

Vor nicht ganz zwei Wochen bin ich wieder in Salone gelandet. Es sind noch keine 14 Tage. Aber zugleich ist in diesen Tagen – eigentlich in den ersten sieben Tagen seitdem ich wieder da bin – schon so viel passiert und ich habe emotional viel Neues erlebt. Zum Beispiel das Gefühl von Unsicherheit in diesem Land. Deshalb bin ich immer wieder verwundert, wenn Freundinnen aus Deutschland „immer noch“ Fotos aus dem Urlaub schicken. Wie lange sind die im Urlaub? Drei Monate? Gefühlt, ist es schon unglaublich lange her, dass ich in Deutschland war, auch wenn ich vor zwei Wochen noch den Sonntagnachmittag mit meiner Familie im Garten verbracht habe. Wie gesagt, es ist einiges passiert seit meiner Landung in Freetown.

Unerwarteter Empfang in Freetown

Direkt am Tag meiner Rückkehr gab es ziemlich schlimme Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrantinnen und Demonstranten. Mich traf das sehr unvorbereitet. Ja, wir sprechen in den CPS-Meetings schon seit Monaten darüber, dass es vor den Wahlen zu Gewalt kommen kann bzw. wird. Seit Monaten wird diskutiert, wie insbesondere junge Menschen (junge Männer) positiv in die Gesellschaft eingebunden werden können, so dass sie sich nicht von politischen Parteien instrumentalisieren lassen. Aber trotzdem war es nicht wirklich greifbar für mich. Wahrscheinlich auch, weil ich mich noch gut an den Wahlkampf und die Wahlen damals in Mosambik 2004 erinnern kann. Damals waren auch alle sehr nervös und in Sorge, dass es Gewalt geben wird vor den Wahlen und während der Wahlen und dann blieb alles ruhig. Hier blieb es auf jeden Fall nicht ruhig vor zwei Wochen.

Ich bin in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch um kurz nach 1 Uhr in Lungi gelandet und war dann mit der Fähre so um drei/ halb vier auf der anderen Seite in Freetown. Ich hatte echt einen tollen Empfang. Freddy hat mich sogar mit dem Keke an der Fähre abgeholt, obwohl es mitten in der Nacht war und John kam auch noch vorbei, sodass wir dann noch zu viert bei Maria saßen bis vier, halb fünf und meine Wiederkehr feierten.

Internetsperre, Ausgangssperre und krasse Bilder

Als ich am Mittwochvormittag aufgewacht bin, war meine größte Sorge, dass ich keinen Strom hatte (weil ich mein Meter vor meiner Reise nicht ausreichend aufgeladen hatte) und meine Gasflasche leer war. Somit konnte ich mir nicht einmal Kaffee kochen! Und dann war auf einmal das Internet weg. Zuerst dachte ich, das liegt an meinem Handy, das sich erst wieder final ans Sierra Leonische Netz gewöhnen muss – was natürlich Quatsch war, weil ich davor schon Internetempfang hatte am Handy, aber egal. Weil ich dringend Kaffee brauchte, bin ich runter zu Maria. Und dort habe ich dann erst gecheckt, was eigentlich los ist in der Stadt.

Ich hatte schon über whatsapp ein kurzes Video gesehen, mit Leuten, die demonstrieren und dem Hinweis, heute mal lieber nicht in die Innenstadt zu fahren, aber Demos gibt es ja manchmal wegen höherer Benzinpreise. Das ist normalerweise nicht so tragisch. Dieses Mal aber war es sehr tragisch. Es wurde geschossen, Menschen wurden auf der Straße erschossen. Sicherheitskräfte und Zivilisten und Zivilistinnen sind gestorben. Es gab richtige Unruhen und gewalttätige Auseinandersetzungen in der Innenstadt in Freetown, in Waterloo und in zwei anderen Städten im Land. Brennende Reifen auf den Straßen, Menschen, die Sicherheitskräfte verprügeln und dann Militärs, die auf den Straßen patrouillieren. Das Internet und Telefonnetz waren für ein paar Stunden ausgeschalten und wurden dann wieder angemacht. Die Regierung hat eine Ausgangssperre ab 15h nachmittags verhängt, ohne Information, wie lange die Ausgangssperre gelten würde. Bei uns im Viertel war alles ruhig. Wir sind nochmal kurz raus und haben Essen besorgt, aber sonst war bei uns alles entspannt. Wir hatten eher so ein WG-Feeling hier mit gemeinsam Abendessen und Film schauen. Es war nur sehr komisch, zu wissen, dass hinter den Hügeln Ausnahmezustand herrscht. Die einzigen Infos, die wir hatten, kamen über soziale Medien und Telefonate mit Leuten, die jemanden kennen, der jemanden kennt…

Im Laufe des Tages habe ich mir dann leider noch ein paar der Videos angeschaut, die über die sozialen Medien geteilt worden waren. Keine schönen Bilder. Und vor allem keine Bilder, die ich sehen möchte, wenn es sich um die Stadt handelt, in der ich lebe. Die Medien filtern hier nicht nach irgendwelchen medien-ethischen Gesichtspunkten in Hinblick darauf, welche Arten von Gewalt und Folgen von Gewalt, Verletzte und Tote sie zeigen. Selbst Online-Zeitungen haben die whatsapp-Videos, die teilweise wirklich grausame Bilder beinhaltet haben, auf ihren Seiten veröffentlicht. Bilder, die so in Deutschland von den Medien niemals gezeigt werden würden.

Wir sind es vielleicht gewohnt, im Fernsehen Bilder von gewalttätigen Ausschreitungen zu sehen, von Menschen die Steine oder Molotow-Cocktails auf Polizei und Militär werfen, von brennenden Straßensperren und Mobs, aber wenn diese Bilder dann auf einmal aus der eigenen Stadt kommen und Menschen zeigen, die doch eigentlich immer freundlich und friedlich sind, dann geht das nicht spurlos an mir vorbei. Ich habe mich auch während der Ausschreitungen nie unsicher gefühlt in meinem Viertel und vor allem nicht, hier in meiner Wohnung. Aber es war ein sehr komisches Gefühl. Man hat gemerkt, dass in der ganzen Stadt auf einmal alle die Luft anhalten.

Die Ausgangssperre wurde am Donnerstagmorgen aufgehoben. Sie wurde durch eine nächtliche Ausgangssperre von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens ersetzt. Die meisten Läden blieben zu, Büros blieben geschlossen, auch wir waren im Homeoffice bzw. zuhause. Ich war trotzdem mal kurz einkaufen. Ich bin ja erst am Mittwoch zurückgekommen und hatte nichts zu essen zuhause. Es war ruhig auf den Straßen und irgendwie eine komische Stimmung. Ab Freitag normalisierte sich die Lage schon etwas und einige Läden haben wieder aufgemacht und die Leute sind auch langsam wieder zurück ins Büro. Das Verrückte an der Situation war, dass es, wenn ich mir nicht aktiv bewusst gemacht habe, was hier gerade passiert, eigentlich gar nicht so extrem war. Ausgangssperre kennen wir jetzt ja alle schon von Covid. Wir sind dann eben am Samstag schon nachmittags zum Bierchen an den Strand und nicht erst am Abend. Sobald ich mir aber bewusst gemacht habe, weshalb hier gerade Ausgangssperre ist – nämlich dass einfach mal Menschen auf der Straße erschossen worden waren und es Leute gab, die in den sozialen Medien zum Sturz der Regierung aufgerufen hatten – dann kam doch wieder eine komische Stimmung in mir auf.

Die nächtliche Ausgangssperre wurde zuerst im Süden des Landes aufgehoben und dann am Samstagabend auch bei uns in Freetown. Es gab im Osten Freetowns am Wochenende zwar nochmal ein paar Auseinandersetzungen, aber es war nicht ganz klar, ob das eher eskalierte, weil die Leute schon angespannt waren, oder wirklich nochmal Leute mit Absicht eskalierten. In Makeni gab es auch danach nochmal Gewalt. Aber mittlerweile ist es auch dort wieder ruhig – zumindest an der Oberfläche.

Geht das jetzt so weiter?

Nun gut, kann man sich nun denken. Dann gab es eben drei Tage Demonstrationen und am letzten Tag ist es eskaliert. Durch das schnelle Durchgreifen von Seiten der Regierung war die Situation ja ziemlich schnell unter Kontrolle und die Lage im Land wieder ruhig. Das, was den meisten Menschen inklusive mir, Sorgen bereitet, ist das Wissen, das dies nun die ersten Vorboten für den Wahlkampf waren. Wir haben nächstes Jahr im Juni Wahlen. Die meisten Leute hier gehen davon aus, dass die Wahlen nicht ohne Gewalt und Konflikten vonstattengehen werden und es nun immer wieder zu solchen Situationen kommen kann.

Es gibt verschiedene Theorien, wer für die Eskalation verantwortlich war. Die einen sagen, es war die Opposition, die junge Männer aus den Provinzen in die Hauptstadt geschickt hat, sie unter Drogen gesetzt hat und mit Waffen versorgt, so dass sie Unruhe stiften und Chaos kreieren. Damit soll angeblich gezeigt werden, dass die aktuelle Regierung, die Lage nicht im Griff hat und es nicht schafft, die Wahlversprechen einzuhalten. Die Preise sind in den letzten Monaten extrem gestiegen und die Kosten für Essen, Wohnen und Kochen sind für viele nicht mehr bezahlbar. Andere sagen, es war die Regierung selbst, damit sie Stärke zeigen kann und gegebenenfalls einen Grund hat, den Ausnahmezustand auszurufen und härter gegen Gegner des Präsidenten vorzugehen. Wieder andere sagen, es sind Exil-Sierra Leoner. Insbesondere eine Person hetzt die Menschen über soziale Medien gegen die aktuelle Regierung auf. Oder es waren doch einfach nur Menschen, die sich das Leben nicht mehr leisten können und deshalb auf die Straße sind? Die letzte Version ist am wenigsten wahrscheinlich, da es insbesondere in den strongholds der Opposition zu Ausschreitungen kam.

Anscheinend haben nicht bekannte Influencer online zu Streiks aufgerufen für den 8. bis zum 10. August und dazu, am 10. August „die Straßen einzunehmen“. Da offiziell niemand eine Demonstration angemeldet hat und die Gruppierung, die sich dazu bekannt hat, keine Partei oder keine greifbare Gruppe ist, kann nur vermutet werden, wer wirklich dahintersteckt. Da die Situation schon am Dienstag, dem 9.8., unruhig war, wurde das Militär zur Hilfe der Polizei hinzugezogen mit Hilfe der Military Aid to Civil Power Policy. Normalerweise hat das Militär keinen Auftrag im Landesinneren (ähnlich wie in Deutschland). Das Militär half, die Ausgangssperre zu kontrollieren und gegen die Gewalttätigen vorzugehen.

Es gibt unterschiedliche Zahlen zu den Opfern. Es gibt Quellen, die sprechen von vier, andere von sechs getöteten Polizisten und Polizistinnen und von 21 oder mehr zivilen Opfern. Alle politischen Parteien haben die Gewalt verurteilt und zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Der Präsident und andere Regierungsvertreter haben die Opposition direkt oder indirekt mit den gewalttätigen Ausschreitungen in Verbindung gebracht. Die Opposition dementiert das und hat auch offiziell klar Abstand zu den hetzenden Influencern genommen. Es bleibt das große Problem, dass es kaum verlässliche Nachrichtenquellen gibt. Die meisten Leute informieren sich über die sozialen Medien. Aber die Videos und Fotos sind nicht immer verifiziert und natürlich ist bei einigen auch nicht klar, ob sie wirklich aktuell sind, oder schon ältere Aufnahmen sind. Während der Ausgangssperre gab es z.B. Videos von schwarzen SUVs, die bei Leuten vor den Häusern anhalten und Leute aus den Häusern holen. Es gab Videos von Militärs, die die Straße entlanglaufen und dann sind nochmals Schüsse zu hören. Bei vielen Meldungen gab es mehrere Versionen und Erklärungen, je nachdem, mit wem man so gesprochen hat.

Eigentlich weiß ich nur eines: Nichts Genaues weiß ich nicht. Es bleibt alles absolut undurchsichtig für mich.

Darüber schreiben oder nicht und wenn ja, wie überhaupt?

Zunächst wusste ich nicht, ob ich hier überhaupt über die Ausschreitungen berichten soll oder nicht. Ich wusste nur, ich schreibe erst, wenn die Lage sich wieder beruhigt hat, damit ihr euch keine akuten Sorgen machen müsst. Mittlerweile weiß ich aber gar nicht, ob ich nicht viel eher mich schützen wollte und nicht euch. Ich glaube, mir geht es viel eher darum, dass ich nicht glauben möchte, wie schnell die Menschen gewalttätig werden und der fragile Frieden in größter Gefahr ist. Ich wollte das schöne Bild von Sierra Leone nicht zerstören. Aber da ich euch ja ein möglichst breites Bild meiner Realität hier abbilden möchte, kann ich so etwas einschneidendes nicht einfach weglassen.

Wie gesagt: ich war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr und ich habe mich auch zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt. Aber ich fühlte mich in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auch als die Ausgangssperre aufgehoben war.

Und dann gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb ich nicht sicher war, ob ich hier darüberschreiben soll: die Lage ist sehr undurchsichtig. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht wirklich und kenne auch gar nicht alle Akteure und Akteurinnen. Ich habe versucht, euch zu beschreiben, wie ich die Situation erlebt habe, aber einen echten Hintergrundbericht gibt es hier nicht. Ich fühle mich nicht informiert genug, um euch echte Informationen zu den politischen und gesellschaftlichen Hintergründen zu geben.

Und jetzt – business as usual?

Hier geht das Leben jetzt wieder „normal“ weiter. Während ich hier sitze und schreibe, ist draußen auf der Straße großes Geschrei, weil die Jungs Fußball spielen; gestern habe ich meinen Strandspaziergang gemacht, vorgestern war ich beim Kneipenquiz und morgen wartet ein Treffen mit zwei Regierungsbehörden auf mich, bei dem es um die Gefahren der Deforestation gehen wird. Einerseits ist es gefühlt etwas ruhiger als sonst auf den Straßen und in den Nächten, andererseits kann das auch an der Regenzeit liegen. Immerhin hatten wir fast fünf Tage Regen am Stück, Straßen waren überschwemmt und kaum jemand verlässt das Haus.

Die Ausgangssperre wurde vor einer Woche aufgehoben, aber auch das alles scheint schon wieder so weit weg, weil auch seitdem schon wieder so viel passiert ist. Ich weiß gar nicht, was gerade los ist. Aber die Tage sind gerade voller Ereignisse. Es wird also sehr bald ein weiterer Beitrag folgen und hoffentlich von meiner überaus erfolgreichen und motivierenden ersten Arbeitswoche nach meinem Urlaub berichten. Ich hoffe, dass in der Zwischenzeit nicht wieder irgendetwas außergewöhnliches passiert, so dass ich in aller Ruhe erst einmal erzählen kann, was in den letzten Tagen so los war. Nur so viel Spoiler: it´s getting wet over here…

2 Kommentare

  1. Canan

    Seit wann regiert denn die jetzige Regierung und wie stark ist die Opposition?

    • TheKaddl

      Aktuell stellt die SLPP (Sierra Leone People´s Party) den Präsidenten und ist somit auch die regierende Partei. Die stärkste Oppositionspartei heißt APC (All People´s Congress). Die beiden Parteien sind fast gleichstark. Bei den letzten Wahlen haben beide in der ersten Runde um die 43% der Stimmen gewonnen. Auch im Parlament sind sie ziemlich gleich vertreten. Den Ausschlag bei den Wahlen geben meist die Wählerinnen und Wähler anderer Parteien, wenn es in die Stichwahl geht.
      Der Präsident und das Parlamant werden alle fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Regierung ist seit den Wahlen 2018 an der Macht. Seit dem Ende des Bürgerkrieges regierte meist eine der beiden großen Parteien für zwei Legislaturperioden und wurde dann von der anderen abgelöst. Ob die aktuelle Regierung noch eine zweite Periode bekommt, ist gerade noch sehr unklar.

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