In den letzten Tagen ist mir wieder einmal bewusst geworden wie wichtig eine selbstbewusste nationale Identität ist oder vielleicht besser eine positive Selbstwahrnehmung und wie wichtig die Künste dafür sind. Vielleicht hört es sich für euch jetzt komisch an, dass ich positiv über „nationales Selbstbewusstsein“ schreibe, aber das ist, was hier in Sierra Leone so oft fehlt.

Es hat mich schon immer irritiert, dass ich als weiße Person so positiv aufgenommen werde, in dem Glauben, dass ich mehr weiß und Sachen besser weiß als Menschen in Sierra Leone. Ich finde es auch immer noch gewöhnungsbedürftig, dass von Briten als „our colonial masters“ oder „our teachers“ gesprochen wird. Wie tief koloniale Narrative noch im allgemeinen Bewusstsein stecken, wird mir dann jedes Mal bewusst. Wo ich Ablehnung und Hass erwarten würde, ist Anerkennung und Ansehen. Kein Wort von Ausbeutung, Versklavung und Absprache von Menschenrechten.

Das führt dazu, dass alles was „aus dem Westen“ kommt, positiv bewertet wird und traditionelles Wissen und traditionelle Lösungen nicht gleichwertig betrachtet werden. Einerseits sind Traditionen sehr wichtig und werden gepflegt, aber nur in ihrer eigenen Sphäre. Im Schulsystem, im Gesundheitssystem, bei Lösungsansätzen für lokale Herausforderungen wird trotzdem nach Westen geblickt. Nach Europa und in die USA.

Im Gesundheitssystem führt das zu extremen Problemen. Teilweise wird traditioneller Medizin vertraut. Teilweise ist hier aber auch schon Wissen verloren. Es gibt in den Dörfern noch viel Wissen über Heilkräfte von Pflanzen, welche Baumrinde gegen welche Beschwerde genutzt werden kann und welche Hausmittel für welche Krankheit gut sind. Gleichzeitig wird manchmal der Schulmedizin blind vertraut, ohne dass ausreichend Wissen in der Gesellschaft vorhanden ist. So gilt ganz klar, eine Infusion ist immer besser als eine Tablette und Antibiotika hilft immer. Bei jedem Husten wird auf Antibiotika zurückgegriffen und zugleich werden Pilzsalben bei Wurmerkrankungen verschrieben und angewendet. Ob ein starkes Antibiotikum für einen Säugling sinnvoll ist und ob eine Mutter und ihr Sohn, die sich die ganze Nacht übergeben haben, tatsächlich fünf verschiedene Medikamente benötigen (darunter natürlich wieder Antibiotika) wird nicht wirklich hinterfragt. Auch die Devise viel hilft viel findet oft Anwendung. Bei Erkältung hilft Ingwer und Limette mit Honig ja erst mal ganz gut, da muss es nicht gleich eine Infusion mit Malaria- und Typhusmedikamenten sein. In meiner Wahrnehmung ist es der Unwissenheit geschuldet. Aber zu einem Teil auch dem unbegrenzten Glauben, dass eine Tablette oder Infusion immer besser sind als natürliche, traditionelle Mittel.

Ich versuche mich hier dem nationalen Trend zu wiedersetzen und sitze gerade mit Limetten-Kräutertee am Balkon. Ich kränkel etwas. Late-rainy-Season-Erkältung… Deshalb ist auch der Text heute vielleicht etwas wirr und grammatikalisch noch herausfordernder als sonst 😉

Das Schulsystem wurde gefühlt seit der Unabhängigkeit nicht mehr revolutioniert. So herrschen noch Frontalunterricht und Prügelstrafe, wie in Europa in den 50er und 60er Jahren. Kinder lernen teilweise im Kindergarten das ABC, können hervorragend englisch Wörter buchstabieren, aber sich keine neuen Wörter erschließen, da es um Auswendiglernen und Vortragen geht und nicht darum, Wissen zu erlangen und es anzuwenden. Dabei sind hier zugleich alle Menschen groß darin, Probleme mit wenigen Mitteln zu lösen. Es ist ein einziges Paradox.

Schullektüre ist oft auch noch an den britischen Unterricht angepasst, sodass es kaum Geschichten aus der eigenen Kultur und der eigenen erlebten Umwelt gibt, zur Identifikation. Ich lese Geschichten aus Sierra Leone jetzt, da ich das Land kenne ganz anders. Es war schon für uns manchmal schwer, deutsche Klassiker zu lesen. Es wäre interessant zu wissen, welche Bilder in den Köpfen von Sierra Leonischen Schulklassen entstehen, wenn sie englische Klassiker lesen.

Es ist Zeit für echte Dekolonialisierung – auch im Umweltschutz!

Letzte Woche war ich auf der Climate Change Conference als Vertreterin meiner Organisation. Dort hat ein Professor der Uni einen sehr guten Vortrag gehalten zum Climate Change aber auch zum Thema lokale Lösungen. Ja, es war etwas unangenehm, als er gesagt hat, wir – also die Menschen in Sierra Leone – sollten aufhören, immer nur nach Westen zu schauen und von dort Lösungen zu erhoffen und zu machen was die ganzen internationalen Organisationen ihnen sagen (ich war die einzige weiße Person im Raum), aber ich habe ihm aus ganzem Herzen Recht gegeben. Er meinte, wir müssen endlich die Dekolonialisierung auf die ganze Gesellschaft übertragen, auf die Schulbildung, traditionelles Wissen und auch Klimaschutz. Es gibt schon immer traditionelle Wege, Natur und Pflanzen zu schützen. Es gibt in jeder Gesellschaft Regeln für die Jagd, für Landwirtschaft, für die Nutzung des Waldes – wir müssen uns ihrer nur wieder besinnen und sie in die aktuelle Zeit und unsere heutige Situation übersetzen. So ein kritisches Denken gibt es nicht oft. Und natürlich, er ist Prof hier in Sierra Leone aber auch in den USA. Und das ist das Traurige an der Geschichte. Die Menschen aus der Diaspora bringen diese kritischen Ideen mit. Auch sie kommen also aus dem Westen… Wieso ist das so?

Der Prof auf jeden Fall kommt aus Kabala und baut dort ein Bildungszentrum auf mit einer dekolonialisierten Bibliothek und möchte traditionelles Wissen sammeln, bewahren und wieder stärken. Ich finde das sehr spannend und hoffe, ich kann bei meinem nächsten Kabala-Trip da vorbeischauen.

Wenn man sich zum Beispiel die traditionellen Fischfallen anschaut, sie fangen nur die größeren Fische, die kleinen kommen wieder raus. Die Fischernetze haben auch ziemlich große Maschen. So ist eigentlich sichergestellt, dass nicht überfischt wird und der Nachwuchs nicht direkt mitgefangen wird. Das Problem der Überfischung und des vielen Beifangs kommt erst mit den großen industriellen Trawlern und den engmaschigen Netzen, die teilweise als Geisternetze im Meer herumschwimmen.

Ein Literaturabend in Freetown – endlich treffe ich Ishmael Beah

Das gleiche Thema kam unerwarteterweise direkt zwei Tage später bei einem Literaturabend nochmal auf. Veranstaltet wurde der Abend letzte Woche Mittwoch von der Aurora Foundation, eine isländische NGO, die hier tätig ist und der Grund dafür ist, dass ich seit meiner Ankunft in Sierra Leone mehr Isländerinnen kennengelernt habe als in meinem ganzen Leben zuvor.

Aurora hat auf jeden Fall einen Abend mit meet and greet veranstaltet mit Ishmael Beah, einer der bekanntesten Autoren aus Sierra Leone weltweit, und Maria Bradford einer passionierten Köchin und Herausgeberin des Kochbuches „Sweet Salone“. Ich bin natürlich wegen Ishmael Beah hingegangen. Schon bevor ich nach Sierra Leone bin, habe ich mich selbstverständlich, wie es in meiner Familie üblich ist, literarisch auf das neue Land vorbereitet. Da es nicht so viel Literatur von Sierra-Leonischen Schriftstellerinnen und Autoren gibt, habe ich gelesen, was wahrscheinlich fast jede liest, die Literatur aus und über Sierra Leone liest. Was „Blood Diamond“ für die Filmleute ist, ist „A long way gone“ für uns Lesebegeisterte. „A long way gone“ ist ein autobiographisches Buch in dem Ishmael Beah seine Erlebnisse als Kindersoldat während des Bürgerkrieges beschreibt. Ein sehr empfehlenswertes Buch. Insgesamt hat Beah noch zwei weitere Bücher veröffentlicht, die natürlich auch bei mir im Regal stehen. Eines habe ich noch nicht gelesen, aber es liegt schon neben mir. Ich werde heute noch anfangen. Nach dem Bürgerkrieg gab es von den USA ein Repatriation Programm für ehemalige Kindersoldaten, über dieses Programm ist Beah in die USA gekommen, und lebt seitdem dort. Er ist verheiratet und seine drei Kinder waren bei der Lesung dabei. Ich hätte sehr gerne ein paar Fragen gestellt, aber dachte, es wäre interessanter, in kleinerer Runde wirklich etwas darüber zu erfahren, wie es für ihn war, nach dem Krieg in die USA zu kommen, nach allem, was er erlebt hat. Er ist ein sehr sympathischer Typ, der gerne lacht und scherzt. Es ist sehr schön zu sehen, dass auch so schlimme Wunden, etwas heilen können und Menschen auch nach so schlimmen Erlebnissen glücklich sein können. Aber das ist hier nicht das Thema heute.

Der zweite Star des Abends war Maria Bradford, die ebenfalls in Sierra Leone geboren, mittlerweile in den UK lebt und von dort ihr Kochbuch mit sierra-leonischen Gerichten geschrieben und veröffentlich hat. Das Buch ist wunderschön, ich habe es natürlich erstanden. Ich hatte gehofft, gute Rezepte für lokale Produkte zu finden, leider ist auch viel Afro-fusion dabei mit Zutaten, die ich hier gar nicht bekomme. Aber ich werde trotzdem ein paar Sachen nachkochen. Und: es gibt auch Ziegengerichte! Weshalb das wichtig ist, erfahrt ihr in naher Zukunft…

Wie hängen nun diese beiden mit dem positiven Selbstbewusstsein zusammen? Ganz einfach. Ich habe direkt Marta, einer meiner Freundinnen hier, ins Ohr geflüstert, dass es ein bisschen schade ist, dass wir zu einem sierra-leonischen Literaturabend gehen, aber die Autorin aus London anreist und der Autor aus den USA. Sie sind beide hier geboren, aber sie sind beide im Ausland ausgebildet und stark geprägt worden. Sie kommen jedes Jahr für ein Wochen ins Land und dann wieder zurück in ihr schönes, bequemes Leben. Und interessanterweise haben sie beide genau das auch thematisiert. Dass sie nicht wären, wo sie heute sind, wenn sie hiergeblieben wären. Dass es hier keine Wertschätzung für Kunst gibt und keine Unterstützung für junge und begabte Menschen. Bestimmt haben sie recht. Was passiert denn mit Kindern hier, die eine musikalische Begabung haben? Wo werden sie entdeckt, wo gefördert? Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt Musikunterricht in den Schulen gibt. Oder Kunst. Als wir letztes Jahr den Malwettbewerb mit den Schulklassen gemacht haben, haben wir Stifte und Blätter zur Verfügung gestellt, weil sonst hätten die Kinder gar keine bunten Bilder malen können. Einfach weil sie keine Stifte und Blätter haben. Selbst wer gerne Gedichte oder Geschichten schreiben würde, braucht ja erstmal Blatt und Stift.

Welche Eltern in Deutschland machen schon einen Luftsprung, wenn das Kind sagt, es will später mit seinem Talent, egal ob mit Malerei, Musik, Schreiben oder auch Sport Geld verdienen? Aber wahrscheinlich können die meisten Kinder ihrer Leidenschaft zumindest im Kleinen nachgehen, sich ausprobieren und dann wenn sie älter sind, wirklich entscheiden, was sie machen möchten, ohne dass ihre Begeisterung schon im Keim erstickt wird.

Dass die bekanntesten Künstlerinnen und Künstler oftmals aus der Diaspora kommen, ist schade, aber vielleicht besser als gar keine Vorbilder aus Sierra Leone. Es gibt ein paar wirklich gute Künstlerinnen und Künstler, die malen. Schreiben ist natürlich nicht die No1 Ausdrucksweise hier, aber Geschichten, in denen sich Kinder und Jugendliche Wiederfinden, wären sehr wichtig für ihre selbstbewusste Entwicklung. Eine super Buchreihe dafür – besonders für Mädchen im Teenagealter – ist von Namina Forna „The Gilded Ones“. Sie ist auch als Neunjährige, während des Krieges in die USA, aber ich finde die Bücher sehr gut, es ist feministische Fantasy einer jungen Schriftstellerin aus Sierra Leone. Kann man sehr gut mal lesen.

Das schöne beim Lesen sind ja die Bilder, die im Kopf entstehen. Die Gefühle und Emotionen, die wir mit Wörtern verbinden. Es macht einen großen Unterschied, ob die Menschen im Buch Schnitzel essen oder casava leave. Ob ich dazu ein Bild im Kopf habe oder nur Fragezeichen. Zu wissen, wie ein Haus, eine Straße, ein Taxi aussehen in der Geschichte aussehen. Oder ein Dorf, Wald und die Gerüche, die damit verbunden sind.

Mich freut es deshalb gerade sehr, dass heute schon den ganzen Abend nicht wie sonst, nigerianischer Afro Pop von der Straße nach oben schallt, sondern alte sierra-leonische Lieder. Das mit dem nationalen positiven Selbstbewusstsein wird wohl noch etwas dauern. Im Ausland ist Sierra Leone ja immer noch für Bürgerkrieg und Blood Diamond bekannt. Irgendwie schafft es das Land nicht, mit seiner wundervollen Natur und den superfreundlichen Menschen bekannt zu werden.

Da ich echt etwas angeschlagen bin, heute kein langes Palaver. Aber ihr seht schon, Climate Change Conference, Literaturabend, vom Theater habe ich ja gar nichts erzählt, und was treibe ich sonst noch so? Ich gehe schön fleißig bouldern und habe tatsächlich letzte Woche fast die eine dunkelblaue geschafft 😉 am Sonntag war ich endlich mal wieder im Meer schwimmen und sonst bin ich eigentlich jeden Tag ganz gut beschäftigt nach der Arbeit.

Und hier noch mein Highlight: Ich habe das Communique stellvertretend für meine Organisation unterschrieben. Als ich das Foto gesehen habe, habe ich gleich an meinen Onkel in der roten Hose gedacht 😉 Ja, ich gehöre jetzt auch zu den Menschen, die rötliche Hosen zu offiziellen Anlässen tragen!

Und auch das Foto, das ich zu Beginn der Veranstaltung gemacht habe, finde ich sehr passend. Zum Thema Klima haben sie sich für Plastikblumen in Traueroptik entschieden 😬