„Sierra Leone ist eines der ärmsten Länder der Welt.“ Es ist einer dieser Sätze, die man als erstes liest oder hört, wenn man sich über Sierra Leone informiert. Aber was dieser Satz bedeutet, das steht nirgends. Was heißt es denn, in einem der ärmsten Länder der Welt zu leben? Ich frage mich das öfter und eine Antwort finde ich nicht so richtig.

Letzte Woche war ich in Kenema, das ist eine Stadt im Südosten des Landes, fünfeinhalb Autostunden von Freetown entfernt. Auf der Heimfahrt beim Blick aus dem Fenster gingen mir viele Gedanken dazu durch den Kopf.

„Die ärmsten Länder der Welt“

Die ärmsten Länder der Welt… Ich sehe da eher Bilder aus dem Jemen vor mir oder aus Krisengebieten in der Sahal. Bilder von Kindern, die so klein und unterentwickelt sind, dass ich ganz tief in mir erschüttert bin vom bloßen Anblick dieser kleinen Körper, bestehend aus Haut und Knochen. Aber bestimmt sehe ich vor meinem inneren Auge nicht Sierra Leone.

Ich bin mir natürlich bewusst, dass ich mich hier nicht mit dem ärmsten Bevölkerungsteil umgebe. Meine Wohngegend ist nicht die schlechteste, eher eine der besten. Trotzdem gibt es viel Wellblech um mich herum, in den Nachbarhäusern wird draußen auf Kohle gekocht, draußen abgespült und Wäsche gewaschen und es gibt öffentliche Toiletten- und Duschhäuschen, die sich mehrere Familien teilen. Viele haben Toilette und Waschstelle nicht im Haus. Durch meine Arbeit in den Dörfern und meinem Alltag in der Stadt habe ich wahrscheinlich schon relativ viele Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten gewonnen. Natürlich gibt es auch in den ärmsten Ländern der Welt reiche Menschen und arme Menschen. Wie überall. Wie es ja auch in Deutschland mehrere Millionen Menschen gibt, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Das dürfen wir ja auch nicht vergessen. Oder besser: diese Menschen sollten wir auch nicht vergessen.

Was aber gehört dazu, wenn man in einem der ärmsten Länder der Welt lebt? Es gibt nicht immer Wasser und Strom. Manchmal gibt es auch kein Benzin. Die Straßen sind teilweise schlecht. Es gibt keine staatliche Fürsorge. Polizei, Lehrkräfte, Politikerinnen und Politiker, Angestellte im öffentlichen Dienst – viele versuchen ihren geringen Lohn mit zusätzlichen Geldern aufzustocken, sprich: es gibt viel Korruption. Von Machtmissbrauch und Genderthematik möchte ich hier jetzt gar nicht anfangen. Die tägliche Diät ist sehr eingeschränkt und viele Menschen ernähren sich sehr einseitig, was natürlich Einfluß auf den Körperbau, die Gesundheit und die Lebenserwartung hat. Das Schulsystem ist mehr als marode und in den ländlichen Gebieten gibt es meist nur eine Primary School in Laufnähe (Laufnähe bedeutet in einem Umkreis von 3-5km), von einer Secondary School wollen wir mal gar nicht träumen. Die Wirtschaft ist vollständig abhängig vom Ausland. Der Strom in der Hauptstadt kommt teilweise von einem türkischen Schiff, das vor der Küste ankert und dort Strom produziert. Die Regierung hatte vor ein paar Wochen nicht bezahlt, da gab es eben für ein paar Tage keinen Strom. All diese Sachen passieren in reicheren Ländern wahrscheinlich nicht.

Kein Wasser, kein Strom, keine Zuverlässigkeit

Allgemein fehlt es an Zuverlässigkeit im Alltag. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Sachen funktionieren, weder Infrastruktur noch Dinge, die wir hier kaufen. Die Waren, die es hier zu kaufen gibt, sind entweder gebraucht oder billige Ware aus Asien. Das fängt bei Kugelschreibern, Post-Its und Markern an und geht über Kleidung und Elektroartikel weiter. Wir sind leider darauf angewiesen, mit Produkten von sehr geringer Qualität zu arbeiten, was es natürlich etwas schwer macht, wirklich gut voranzukommen und Sachen zu verbessern. Es sind oft diese kleinen Dinge im Alltag, die das Leben kompliziert und anstrengend machen.

All diese strukturellen Herausforderungen kann ich mal mehr mal weniger gut akzeptieren. Daran gewöhne ich mich teilweise und nehme sie gar nicht immer wirklich wahr. Auf der Rückfahrt von Kenema kam mir deshalb der Gedanke, wenn das hier eines der ärmsten Länder der Welt ist, vielleicht ist es dann doch nicht soooo schlecht um die Welt bestellt. Ja, viele Menschen kämpfen täglich und haben ein sehr anstrengendes Leben – und sei es „nur“ die tägliche Handwäsche der Klamotten und das Transportieren des Wassers – aber es fühlt sich nicht nach Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit an. Das Leben ist wie es ist, und es wird das Beste daraus gemacht. Das Leben hier ist sehr weit entfernt von den Bildern, die in meinem Kopf erscheinen, bei der Phrase „ärmste Länder der Welt“. Diese Bilder sind zu sehr von Katastrophenberichten aus den Medien beeinflusst. Wie überall gibt es auch hier einfach normalen Alltag.

Neben den strukturellen Schwächen im System und der fehlenden Infrastruktur, gibt es für mich aber noch die eine große Herausforderung hier, in einem der ärmsten Länder der Welt. Ich bin auf einmal nicht mehr Teil der Durchschnittsgesellschaft und weit entfernt von Mittelschicht. Durch meine Herkunft, meine Hautfarbe, mein Einkommen und meinen Pass bin ich unglaublich privilegiert.

Meine Privilegien – oft eine große persönliche Herausforderung

All die Sorgen und Nöte der Menschen – ich teile sie nicht wirklich. Ja, auch ich habe oft keinen Strom, aber nur weil ich mich bis jetzt geweigert habe, meine Wohnung an den Generator der Nachbarin anzuschließen. Und sollte ich doch einmal zu lange keinen Strom oder kein Wasser haben, dann habe ich jederzeit die Option ein paar Tage bei einem meiner britischen Johns unterzukommen, die große Wohnungen haben mit 24/7 Strom, Internet und Wasser. Ja, ich habe manchmal kein Wasser, aber dann tragen mir meine Security Leute die Eimer eben in den dritten Stock. Ich habe ein Auto, ich habe keine Geldsorgen und falls ich krank werden sollte, kann ich mir sicher sein, dass ich die bestmögliche Behandlung bekommen werde. Ich habe meine Medizinbox in meinem Schrank, bin gegen vieles geimpft und kann es mir leisten, sauberes Wasser zu haben und Essen in guter Qualität zu kaufen.

Konfrontation mit der Realität – was tun?

Ausschlaggebend für diesen Beitrag war eine Situation von Freitagabend. Sie arbeitet immer noch in mir. Wie gesagt, am Heimweg von Kenema dachte ich noch, ach, wenn das hier eines der ärmsten Länder der Welt ist, dann geht es dem Rest ja wirklich ganz gut. Abends waren wir dann mit meinem einem Freund John in einer der Strandbars auf ein letztes gemeinsames Bierchen dieses Jahr, weil John über Weihnachten und Sylvester in den UK ist.

Wir sitzen also gemütlich an unserem Tisch – Tina, John und ich – und trinken unser Bier. Die Strandbar ist eine Holzkonstruktion, quasi wie eine Holzterrasse direkt am Meer, die auf Stelzen steht. Um uns herum schon Dunkelheit, es wird hier zurzeit immer ab halb sieben/sieben dunkel. Auf einmal kommt von meiner linken Seite eine Stimme an mein Ohr „Yes Ma, please Ma, ah de beg yu“. Als ich in die Richtung schaue, blicke ich einem Jungen in die Augen. Insgesamt waren es drei Jungs, die da am Strand neben uns standen und uns um Geld gebeten haben, damit sie sich Essen kaufen können. John hat offensichtlich die gleiche Policy wie ich – wir geben kein Geld. Aber es ist alles andere als einfach – ah de tell yu. Wir haben den Jungs mehrfach gesagt, dass wir ihnen nichts geben, aber sie waren sehr hartnäckig. Verständlich. Ich denke, wer schnell aufgibt, der überlebt nicht lange auf der Straße. So sind sie immer wieder hochgeklettert neben uns und haben uns um Hilfe gebeten. Wie hart und herzlos ist das – da bittet dich jemand um Hilfe und du sagst einfach nein.

Da war sie also mal wieder. Diese Situation mit den Privilegien. Was tun? Ich weiß, man soll Kindern eigentlich nichts geben, vor allem kein Geld. Wenn sie mit Betteln Geld verdienen, kann es sein, dass sie nichts anderes lernen. Andererseits: was sollen sie anderes machen? Als ob tausend gut bezahlte Jobs auf diejenigen warten würden, die einen guten Schulabschluss haben. So ist es ja nicht. Und die Jungs, die am Strand betteln, sind bestimmt nicht die Jungs, die die Möglichkeit auf eine gute Schulbildung haben. Gleichzeitig ist klar, wenn ich den drei Jungs Geld gebe – abgesehen davon, dass wir nicht wissen, ob sie das Geld wirklich selbst behalten können oder abgeben müssen – was ist das für ein Zeichen? Kommen sie morgen wieder, kommen morgen mehr?

Natürlich wurden nur wir von den Jungs angesprochen. Die Gäste an den anderen Tischen wurden ignoriert. Bestimmt wissen die Jungs, dass Sierra Leoner ihnen nichts geben, im Gegensatz zu den Weißen aus Europa und den USA. Und fast hatten sie mich, mit ihrem Spruch

Wi go make yu laugh

Ein Lachen, eigentlich unbezahlbar. Sie haben auch angeboten, für uns zu tanzen. Es hätte also schon eine Leistung gegeben für unser Geld. Wir haben dann auch mit John darüber gesprochen, was wohl das richtige ist in solchen Situationen. Ich denke, es gibt kein richtig und kein falsch. Es fühlt sich nur so unglaublich falsch an, diesen Jungs kein Geld zu geben oder nicht einfach Essen für sie zu bestellen und es ihnen zu geben, so dass sie nicht hungrig schlafen gehen müssen. Aber ich weiß auch, dass das Problem größer ist als jede und jeder einzelne von uns. Den Jungs sind die großen Zusammenhänge mit Sicherheit vollkommen egal, sie haben Hunger und wollen etwas essen. Die Policy, niemandem Geld zu geben, schützt mich, weil ich dann nicht jedes Mal nachdenken muss, gebe ich jetzt etwas oder nicht. Aber es macht das Ganze nicht einfacher. Soll ich es wirklich zulassen, dass Menschen hungrig sind, wenn es mich ein paar Euro kosten würde und ich die Situation Hier und Jetzt ändern könnte? Ist das wirklich richtig und vor allem ist es menschlich? Es fühlt sich nicht gut an. Aber noch habe ich keine Lösung dafür, mit der ich mich wirklich gut fühle. Wenn ich darüber schreibe, denke ich, es ist mehr als gemein, nichts zu geben. Aber wo anfangen und wo aufhören? Anfangen beim ersten Menschen, der mich anspricht, und aufhören, wenn das Geld aufgebraucht ist? Oder doch im kleinen Kreise unter Freundinnen und Freunden helfen und versuchen über meine Arbeit positive Veränderung zu unterstützen?

Situationen wie die am Strand mit den Jungs gehören eben auch zum Leben in einem der ärmsten Länder der Welt. Meine Hautfarbe strahlt die Informationen über meine Privilegien in alle Himmelsrichtungen. Ich kann mich nicht rausreden mit Sätzen wie „Ich habe auch nicht viel Geld“, „Ich bin auch nicht reich“ oder ähnliches. Ich bin sehr reich im Vergleich zur großen Mehrheit der Bevölkerung hier. Und auch damit muss ich irgendwie klarkommen. Ich möchte jetzt hier nicht rumjammern und so tun als wären meine Privilegien eine ach so große Last. Ich bin sehr sehr dankbar, dass ich sie habe. Und ich bin mir ihrer mehr als bewusst. Bloß, wie damit umgehen? Da muss ich noch ein bisschen in mich gehen und brauche noch mehr Austausch mit anderen. Vielleicht gibt es aber auch einfach keine Lösung dafür.

Omikron und Co – bei dir so?

Zum Schluss noch ein kleines Covid-Update. Da in Deutschland die Zahlen ja gestiegen waren in den letzten Wochen und ich heute gelesen habe, die Niederlande sind wieder im Lockdown + Coronaleugnerinnen und – leugner verseuchen heute mit ihren Ideen und Gedanken mal wieder die Innenstädte, wollte ich kurz zur Situation hier berichten. Offiziell haben wir sehr niedrige Zahlen, wobei Omikron auch hier unterwegs ist. Es gibt jetzt auch hier langsam ein paar Leute, die ich kenne, die positiv getestet wurden bzw. Leute die „erkältet“ sind. Einer meiner Partygäste wurde ein paar Tage nach meiner Party positiv getestet, da war er allerdings schon wieder zurück in Deutschland. Vielleicht hat er es sich auf meiner Party geholt und wir hatten es alle in den letzten zwei Wochen, wer weiß. Da die Party nun schon zwei Wochen her ist, denke ich, dass ein Test jetzt nicht mehr positiv wäre. Gerade kam die Nachricht, dass der Impfstoff hier jetzt auch für Booster-Impfungen zur Verfügung steht. Deshalb werde ich mal schauen, ob ich mir in den nächsten Wochen meinen Booster hole.

In Sierra Leone ist gerade Festival Season. Das bedeutet, es gibt ständig Partys, mehrtägige Festivals, Leute aus aller Welt kommen über die Feiertage hierher, um ihre Familien zu besuchen. Perfekt also für das Virus, sich schön auszubreiten. Wir sind gespannt, ob im Januar vielleicht doch nochmal ein Lockdown kommt, falls die offiziellen Zahlen steigen. Bisher is business as usual. Das bedeutet: alles ist offen, niemand trägt Maske und die Leute feiern mit großer Leidenschaft.

Eigentlich hatte ich schon einen Blog-Beitrag zur Festival Season im Kopf und wollte euch mal wieder Einblicke in mein Leben jenseits der Arbeit geben, aber die Begegnung mit den Jungs am Freitag hat mich einfach zu sehr beschäftigt. Aber vielleicht ist das auch ganz passend, um die verschiedenen Facetten des Alltags hier einzubringen – deshalb voraussichtlich als nächstes ein Beitrag zu Party, Palmen, Fußballmatch.

Postkarten no dae

Und noch eine wichtige Info an alle die schon sehnsüchtig auf Weihnachtspost aus SL warten: Eigentlich wollten Tina und ich fleissig Weihnachtskarten verschicken, aber seit ein paar Wochen gibt es leider keine Postkarten mehr zu kaufen 🙂 Wenn es bis Ostern wieder Karten gibt, gibt es dann statt Weihnachtsgrüße eben Ostergrüße.

Bis dahin wenigstens ein Fotogruß. Heute habe ich den Artikel auf meinem Küchenbalkon verfasst. Hier mein Ausblick:

*Please Ma, ah de beg yu – ist Krio. Ma ist die Anrede für eine Frau. Entweder kommt es von Mama oder von Madame. „Ah de beg yu“ bedeutet „Ich bitte dich“